In den Monaten, die ich in Istanbul gelebt habe, kam es beschämend selten vor, dass ich um halb sieben schon draußen war, obwohl es die faszinierendste Zeit in großen Städten ist. Die Stadt oder zumindest „mein“ Viertel, das junge und liberale Kadiköy, liegt dann nach kurzer Nacht noch in leichtem Schlaf.

Es dauert noch ein wenig, ehe all die Wertstoffsammler ihr Tagewerk beginnen, die unzähligen, an Ameisen erinnernden Roller-Kuriere mit ihren Lieferungen das Leben der Stadt am Laufen halten, die Ladenbesitzer, die ächzenden Rollgitter hochfahren und beginnen den Bürgersteig ihrer Existenz verschwenderisch mit Wasser zu reinigen, um dann bei Cay und Zigarette doch noch lange auf die ersten Kunden zu warten. Die Katzen schleichen von ihren nächtlichen Abenteuern zu dem Schlafplatz ihrer Wahl, übergewichtige Istanbuler Hunde schlafen ohnehin zu jeder Tageszeit und ich mache mich endlich auf, um nach fast einem Jahr Pause die Reise fortzusetzen, die hier in Istanbul unerwarteterweise eine lange Pause gefunden hat. Bei einem Raub hatte ich in Thailand vor vielen Jahren einen Zahn eingebüßt. Schlägereien sind nicht so, wie sie in Bud Spencer Filmen scheinen; die Geschichte hatte mir über all die Jahre viel Kummer und Schmerz bereitet und auch einiges an Geld verschlungen. Hier in Istanbul bot sich also die Chance dieses Kapitel mit einem Implantat endlich vernünftig abzuschließen, aber ich hatte nicht erwartet, dass es so lange dauern würde.
Es hat sich in den Monaten des Stadtlebens viel Ballast angehäuft und so fahre ich mit riesigem Gepäck unsicher neben dem stockenden Verkehr Richtung Norden. Wenn auch die einzelnen Stadtteile noch schlafen, füllen doch schon die unzähligen Pendler aus den äußeren Bezirken die Straßen des zentralen Istanbuls. Nach zehn Kilometern habe ich die meisten Autobahnzubringer hinter mir gelassen und die Stadtteile werden ruhiger. Mit Glück findet sich ein Fahrradweg, der direkt am Bosporus entlangführt und schon am frühen Morgen sind die Angler eng beieinander aufgereiht; teilweise sind sie noch sehr jung. Man vergisst im Alltag leicht, wie schwer die wirtschaftliche Krise ist, die das Land nunmehr seit vielen Jahren in Atem hält und die Menschen zermürbt und langsam, aber stetig zu Boden ringt. Es ist etwas falsch, wenn junge Leute vom Fatalismus eingeengt werden, anstatt dass ihnen ihre Träume die Welt öffnen. Die Träume von einem Leben anderswo gibt es gleichhin, aber nur die Wenigsten sind in der Lage ihn zu verwirklichen.

Schon bei den ersten kleinen Anstiegen hin zum schwarzen Meer überkommen mich schwere Zweifel. Wie soll ich die 15.000 Höhenmeter nach Georgien hin überstehen? Bin ich wirklich aus eigener Kraft die über 10.000 Kilometer bis zu dieser Stadt gefahren? Ich finde Trost im Gedanken an „Momo“ von Michael Ende. Dort gibt es einen Straßenfeger namens Beppo, der tagein, tagaus, die unzähligen Straßen der Stadt mit seinem Reisigbesen kehrt. Als die Kinder ihn einmal fragen, wie er denn die ganze Stadt sauber halten will, antwortet er weise, dass er nicht an die ganze Arbeit denke, sondern immer nur an den jetzigen Besenstrich. So will ich es auch halten.
Am schwarzen Meer angekommen lasse ich die letzten touristischen Badeorte hinter mir und schlage mich auf schlechten Schotterstraßen gen Osten. Die Erde ist ockerfarben und reicht nur für spärlichen Bewuchs. Inmitten dieser Einöde tauchen immer wieder neuerrichtete Siedlungen auf, die in der Woche verlassen und im Allgemeinen merkwürdig fehl am Platz wirken. In einem Urlaubsland, in dem man Urlaub nicht ohne Strand denken kann, erwerben die Menschen eben Sommerhäuser und schätzen dabei den Service, den eine „gated community“ mit sich bringt.
Nachdem ich auch die letzten Siedlungen hinter mir lasse und nun mehr ganz allein in dieser Landschaft bin und bereits das Wogen des Meeres hören kann, werde ich plötzlich von einem „Allahu akbar“ erschrocken, das von dutzenden Kehlen mehrfach gebrüllt wird. Ich bin etwas verunsichert, aber fahre dann neugierig weiter, um hinter einer Kurve einige herrliche Pferde zu entdecken, die mit folkloristischem Sattelzeug gerüstet sind. In der Bucht fünfzig Meter vor mir sind schwarze Banner mit weißer Schrift in den Strand gerammt und eine wilde Schar von schwarzgewandeten und turbanhäuptigen Kriegern ist um sie versammelt. Hier und da stehen Truhen und osmanische Möbel im Sand, die weit fern von einem Palast sehr fehl am Platz wirken. Ich muss meinen Blick erst weiter entlang des Weges schweifen lassen, ehe ich Pavillons, Wohnwagen und Transporter entdecke und begreife, dass ich auf Dreharbeiten gestoßen in.
Da sich die nächsten zwei Stunden keine Wasserquelle auftreiben lässt, beschließe ich eine Gruppe von Männern zu fragen, die ihr Lager in einer Bucht aufgeschlagen hat. Mit wettergegerbten Gesichtern und mit Gewehren bewaffnet, machen sie nicht mal 60 Kilometer von Istanbul entfernt einen irritierenden Eindruck, aber sie geben mir gerne etwas Wasser ab. Nun habe ich keinen Grund mehr weiterzufahren. Neben uns Menschen ist noch eine Hundefamilie anwesend, die mir die Nacht Gesellschaft leisten soll. Ich war unglücklicherweise nicht einkaufen und so gibt es zum Abendbrot Haferflocken mit Wasser, Kurkuma, Pfeffer und Knoblauch. Die Hunde scheinen hier zu darben, denn sie wollen mir sogar diese gewöhnungsbedürftige Notration streitig machen.


In der Nacht fängt es an zu regnen und ich bin so erschöpft, dass ich erst nach 12 Stunden wieder aufwache. Nichts ist gemütlicher, als die erste Nacht im Zelt bei Meeresrauschen und Regen nach der Unruhe und dem Stress der Großstadt. Am nächsten Morgen wartet die Hundefamilie schon auf mich. Es ist schön auf diese Art und Weise Gemeinschaft zu haben. Der Regen kam in der Nacht mit einem leichten Sturm und so brechen sich diesen Morgen stahlgraue Wellen am breiten Steinstrand. Ich weiß nur wenig über das schwarze Meer, bin überrascht wie rau und wild es diesen morgen ist und ich bin gespannt, es die kommenden Wochen von seinen unterschiedlichen Seiten zu erleben. Die Natur ist wie immer schmerzlich schön und perfekt, aber rund um mich zeigt all der Müll und die verbrannten Stellen auf der kargen Grasnarbe von unserem schrecklichen Einfluss. Nur die Hunde scheint es nicht zu stören und sie verbringen ihren Morgen im tollpatschigen Spiel. Für die Welpen reicht eine angespülte Sandale, dass es ein guter Tag werden wird.

Auf der Schotterstraße und mit all den kurzen und intensiven Anstiegen komme ich die nächsten Tage kaum voran. In der Türkei gibt es Mini-Pferdefliegen, die mir auf den steilen Etappen im Schwarm folgen und arg zusetzen und die Etappen damit noch scheußlicher werden lassen. Entweder stechen sie mich oder probieren in Auge und Nase zu klettern. Es ist widerlich und manches mal kann ich keine Hand vom Lenker entbehren, um mich zu wehren. Wenn ich in den kleinen Ortschaften für einen Cay halte passiert es häufig, dass ein Rentner, der einst in Deutschland gearbeitet hatte, das Gespräch mit mir sucht. So gehen die Pausen angenehm vorbei, ehe ich mich wieder zur Weiterfahrt aufmache. Meine Versuche meinen Tee selbst zu bezahlen werden stets als Affront betrachtet und so gebe ich klein bei und bin ganz Gast in diesem Land. Ich habe mir ein kleines Spardiktat auferlegt und freue mich ob der Großzügigkeit und Gastfreundschaft so gleich doppelt.
Eines Abends habe ich mir auf der Karte einen Strand ausgesucht, bin dann aber verunsichert, als ich vor Ort die vielen Camping-Verbots-Schilder sehe und auch zwei Gaststätten an den Strand anschließen. Den Schildern zum Trotz stehen ein paar verstreute Zelte am Strand und als ich mich nach dem Verbot erkundige, wird mir mitgeteilt, dass sie schon seit ein paar Tagen hier sein. Wenn Türken campen gehen, dann scheinen sie es aus Genuss zu tun. Auf all den kleinen Lagerfeuern brutzelt Gegrilltes, es wird frischer Tee aufgekocht und die Menschen sind so lieb, dass sie auch mir einen Teller zurecht machen. Ich hätte gerne etwas, was ich zurückgeben könnte. Am späten Abend zieht ein großartiges Gewitter auf, was die ganze Nacht über unserer Bucht zu kreisen scheint. Als ich am nächsten Morgen aufwache, erscheint das Meer so gewaltvoll und stürmisch wie der Atlantik, den ich im Winter vor zwei Jahren in Portugal so häufig erleben durfte.

Langsam werden die Abstände zwischen Auf- und Abstiegen größer und ich habe das Gefühl endlich voranzukommen. Am schönsten ist es ohne Internet unterwegs zu sein. So bleibt so viel Zeit zum Nachdenken, Lesen und Schreiben. Wenn ich alle paar Tage mal W-Land finde, stelle ich fest, dass die Welt sich auch ohne mein Zusehen wie gewohnt weiterdreht und man nichts verpasst hat, aber man doch aus all den Nachrichten und Informationen eine gewisse Schwere mit auf das Rad nimmt, die erst nach einem Tag Abstinenz wieder dem vorherigen, wohligen Frieden weicht.

Diese Tage ist die Haselnussernte voll im Gange und ganze Familien, Dörfer oder Kooperativen scheinen gemeinsam auf den Plantagen zu sein. Es herrscht ein geschäftiges Treiben und jeder hilft auf seine Weise mit. Jene, die sich nicht mehr gut strecken können sitzen in geselligen Runden an den Feldern oder vor ihren Häusern und befreien die kostbaren Nüsse vor ihrer klebrigen Hülle, während die Jungen die Sträucher von ihrer Last befreien. Anschließend wird die reiche Ernte auf ebenen Flächen auf Plastikplanen ausgelegt, um in der Augustsonne zu trocknen. Es ist ein schönes Bild, was die getane Arbeit symbolisiert und immer wieder kommt es vor, dass man mich anhält, um mir zwei Hände voll Nüsse zu schenken. Während die Nutzung der Flächen im Dorf im privaten, kleinen Rahmen passiert, muss man in der Stadt erfinderischer werden und so konnte ich sogar einige Bürgersteige, Autobahnparkplätze und Marktplätze bestaunen, die dafür zu dieser Jahreszeit zweckentfremdet wird.

An einer einsamen Landstraße kurz vor der Dämmerung sitze ich an einer Bushaltestelle, habe beste Laune und mache mich über die geschenkten Nüsse her. Ich merke immer wieder, dass ich mich den Menschen näher fühle, wenn ich weit weg von ihnen bin. Ein Traktor mit einem Bauernehepaar kommt des Weges und biegt vor mir ab. Sie geben mir zu verstehen, dass ich mein Zelt bei ihnen aufschlagen kann. Zwei ihrer Kinder und sieben ihrer Enkelkinder sind da und so wird es statt des einsamen Abends sehr gesellig.
In türkischen Schulen wird Englisch gelehrt, aber wenn man sich das Niveau im Land anschaut, dann muss der Unterricht wirklich schlecht sein oder vielleicht führt auch der Stolz und die Schüchternheit der Menschen dazu, dass es nicht gesprochen wird und weil das Leben nie Gelegenheit bietet, versiegt das Erlernte schließlich ganz. Die älteste Enkeltochter von Halil, meinem Gastgeber, versteht einiges und weiß sich auch auszudrücken. Sie ist stolz darauf meine Übersetzerin zu sein und ich hoffe, dass es auch zufällige Gegebenheiten wie diese sind, die den Kindern dabei helfen am Ball zu bleiben. Ich hätte mich gefreut, wenn sich einmal ein Reisender in mein Kaff verirrt hätte.
Wie immer wird der Einfachheit halber aus „Christopher“ schnell „Mustafa“, was für großes Gelächter sorgt. Von den Kindern werde ich nur noch mit „Mustafa Abi“ (großer Bruder) angesprochen. Das fühlt sich gut an, denn in der Stadt hört man es nur, wenn jemand etwas von einem will. Als ich dann noch erzähle, dass meine Schwester mit „Derya“ einen türkischen Namen trägt, ist man völlig aus dem Häuschen. Jeder hier hat Freunde, Verwandte oder Nachbarn, die sich nach Deutschland aufgemacht haben und so habe ich diesen Abend einige Telefonate zu führen. Man könnte meinen, dass es ausgesprochen unangenehm ist, wenn man ungefragt ein Handy in die Hand bekommt, um mit einer Person zu sprechen, die genauso wenig nach dem Telefonat verlangt hat, aber es ist immer nett und am Ende bin ich einige Antworten, gut gemeine Ratschläge und sogar ein Jobangebot in Hannover reicher.


Als ich mich eines Morgens gerade an einem kleinen Markt mit Obst für den Tag eindecke, kommt ein sportlich aussehender Radreisender des Weges. Namen und Dialekt geben schnell Aufschluss über seine bajuwarische Herkunft. Manfred aus Regensburg hat gerade seine Promotion in Internetsicherheit abgeschlossen und nutzte den kleinen Leerlauf der Stellensuche, bevor er seinen akademischen Elfenbeinturm endgültig verlassen muss, um mit einem Freund und seinem Bruder den Donauradweg bis zum schwarzen Meer zu fahren. Seitdem ist er alleine unterwegs und will es noch bis nach Tiflis schaffen. Bei unseren Gesprächen ziehen die Kilometer und Höhenmeter ganz leicht an uns vorbei und es ist schön abends nach dem geselligen Abendessen Grund zu haben, noch ein wenig gemeinsam draußen zu sitzen. Auch sonst hat Manfred einen guten Einfluss auf mich. Er ist gut im Training, diszipliniert und fährt wegen seines Zeitplanes einen ambitionierten Schnitt. Die beiden Tage, die wir gemeinsam verbringen versuche ich ein bisschen mehr wie er zu sein und es ist gut, dass er mich aus meiner Entspanntheit ein wenig rausreißt. Man bemerkt gerade hier in der Fremde immer genau, wo und wie man großgeworden ist, wenn beispielsweise ein mit Ziegelsteinen beladener LKW mit einer wirklichen quatschigen Ladungssicherung an uns vorbeirast und wir lachend und kopfschüttelnd den Blick des anderen suchen.


Mein Körper verlangt nach einer Woche durchradeln nach Pause und ich habe auch einiges an Arbeit zu erledigen. Wie der Zufall will, ist die nächste Stadt „Safranbolu“, dessen Altstadt als Unesco-Welterbe ausgezeichnet ist. Nach den Entbehrungen der Straße gibt es kein schöneres Gefühl, als wenn man ein kleines, sauberes Zimmer als sicheren Hafen hat. Scheinbar habe ich mit der vergangenen Woche mit den langen Etappen in der Sonne und der Hitze einen ziemlichen Raubbau an meinem Körper betrieben. Mein Elektrolyte-Haushalt scheint durcheinander zu sein und ich verbringe den angedachten Pausentag statt in Entspannung leider über der Schüssel. Es dauert einige Tage, bis sich mein Körper von der Übelkeit erholt und meine freiberufliche Arbeit erledigt ist. Als ich mein Fahrrad warte, bemerke ich einen Bruch an einer der Streben. Es ist wohl das Schlimmste, was dem Fahrrad unterwegs passieren kann und ich brauche einen weiteren Tag, bis ich den Schock verkraftet habe und aktiv werde. Zwischen all diesen kleinen Ärgernissen blieb aber letztlich noch genügend Zeit, um sich die Stadt ein wenig anzuschauen, aber besonders auch den Alltag des kleinen Ortes abseits der Touristenströme zu erleben..








Von Safranbolu ging es weiter in die Höhe. Über 70 Kilometer nur bergauf. Nachdem mir die letzten Wochen besonders die Hitze Probleme gemacht hatte, fror ich diesen Tag und dem folgenden im Regen das erste Mal. Die raue Natur, der Rauchgeruch, der überall in der Luft liegt und der Regen, der die von der Sommersonne gepeinigte Natur ergrünt, aber den Himmel ergrauen lässt: Das alles erinnerte mich sehr an mein Fahrt durch Nordspanien zu dieser Jahreszeit vor zwei Jahren und schmeckt bereits sehr nach Herbst. So eine Reise ist auch immer eine Reise durch die eigene Vergangenheit, durch Erinnerungsfragmente, die hier und da durch einen Geruch, einen Laut oder ein Gefühl plötzlich ganz präsent werden. Ich bin froh, als mich ein langer Abstieg vorzeitig von diesem Hochplateau und wieder zu milderem Wetter führt.


Es braucht wohl noch einige mehr Wochen draußen, ehe ich wieder so abgehärtet bin, wie vor einem Jahr. Das Wetter hat mir jetzt schon eine Erkältung eingebracht, die sich im Zelt und beim Radfahren nur schwer auskurieren lässt. Die Monate in Istanbul haben mir natürlich ein falsches Bild von der Türkei gegeben. Umso mehr ich nun das Land bereiste, desto mehr verstehe ich es, warum für junge, moderne Menschen nur Istanbul, Izmir oder Ankara zum Leben in Frage kommen. Über den kleinen Städten sitzt eine Glocke der Schwermut. Mit dem Hang zur Tradition wird versucht an die Größe einer Welt anzuknüpfen, die schon längst Vergangenheit ist, ohne dass Zukunftsvisionen ihren Weg hierher finden würden. In dem einzigen, wirklich unglaublich schäbigen Hotel einer kleinen Stadt lege ich eine weitere Pause ein, bevor ich mich am nächsten Tag zu meiner bisher größten Bergetappe mache: Knapp 2000 Höhenmeter auf gerade einmal 80 Kilometern.

Ich gebe mich meinem Schicksal hin. Manfred hatte sehr weise gesagt, dass die Schaltung darauf eingestellt ist und die Beine es können. Man braucht also nur Geduld. Es ist wunderbar, wie sich die Landschaft langsam verändert. Die Bergdörfer hier oben auf den unterschiedlichen Kämmen sind einige Kilometer voneinander entfernt, doch wenn der Ruf des Muezzins erklingt, dann scheinen sie ganz nah. Die Akustik ist fantastisch und durch die leichte zeitliche Verzögerung hat es den Anschein, als ob die Worte des Propheten im Kanon gesungen werde. Zwei Mal wird mein Aufstieg von Ekrem unterbrochen, den ich bereits im Ort unten kennengelernt habe und der gerade seine Familie in einem der Bergdörfer besuchte. Das Fotoshooting ist eine willkommene kleine Pause.


Auf der Hochebene angekommen herrscht eine merkwürdige Stille, ganz gleich so als ob hier oben kein Leben herrschen würde. Nur die Rufe der Raubvögel hallen gespenstisch laut. Es ist eine andersartige und erhabene Landschaft und ich bin auch ein wenig vom Stolz beflügelt, trotz der anhaltenden Erkältung, so gut hochgekommen zu sein. Auf den Abstieg begegne ich einigen Schäfern, die allesamt mit Gewehren ausgerüstet sind und auch die stachelbewehrten Halsbänder ihrer Hunde zeugen von den Gefahren für ihre Herden durch Wolf und Bär. Sie müssen starke Charaktere haben, um diese Landschaft und die Stille hier Tag für Tag auszuhalten. Wieder am Meer angekommen und schließlich am Zelt sitzend, umfasst mich eine dermaßen wohlige Erschöpfung, wie ich sie nur selten erlebt habe. Ich bin mehr als zufrieden mit vollem Bauch und warmangezogen in meinem Campingstuhl zu sitzen und in die Dunkelheit zu starren.

Am nächsten Tag komme ich in Samsun an. Es ist ein merkwürdiges Gefühl nach zwei Wochen wieder in einer großen Stadt zu sein, aber es dominiert das positive Gefühl nun wieder unter Menschen zu sein, mit denen man in Kontakt treten könnte, auch wenn ich es letztlich doch nicht tue. Ich habe einige konservativ eingestellte Frauen kennenlernen dürfen, die im privaten alle sehr herzlich und warm waren. Im öffentlichen Raum empfand ich es allerdings immer als sehr irritierend, wenn viele Grüße unbeantwortet blieben und dem Blick ausgewichen wird. Wenn man sich ganz allein irgendwo begegnet, erscheint mir das gegenseitige Ignorieren wie die merkwürdigste von allen Optionen. Die Türken sind Fremden gegenüber erstaunlich schüchtern. Auf dem Land herrscht die Sitte, dass man zum Gruß hupt. Ich habe nichts dagegen den Grüß-August zu spielen, finde es sogar schön, wenn man für die eine Sekunde miteinander in Kontakt tritt, aber mit der Zeit zehrt es an dem Nervenkostüm, wenn man um die 50 Mal pro Tag angehupt wird und dann doch keine lächelnden Gesichter sieht.

Mittlerweile habe ich mein Visum schon um einige Tage überzogen und um den Schaden im Zaum zu halten, beschließe ich ordentlich Strecke zu machen. Vielleicht will ich etwas zu viel. Als ich nach fast 7 Stunden Fahrt und 115 Kilometern im Gegenwind endlich in den angrenzenden Bergen zufällig einen schönen Schlafplatz finde, zittern meine Beine und vor Erschöpfung habe ich Schüttelfrost. Die benötigte Nachtruhe fällt anders als erhofft aus. Bis zum Morgen machen zwei Hunde, eine Wildschweinrotte und drei junge, betrunkene Türken mit ziemlich guten Autoboxen die Gegend unsicher.

Erst nach meinem morgendlichen Schwimmen werden die Begegnungen erfreulicher. Hatice und Yeşim wollen eigentlich die verbliebenen Haselnüsse einer kleinen Plantage aufklauben, aber nehmen sich Zeit, um mir die kleine Mühle neben meinem Schlafplatz und das für sie beste Wasser der Türkei zu zeigen. Sie sind herzlich und humorvoll und lassen mich mit ihrer Art schnell den Groll vergessen, den ich die zuvor beschrieben hatte. Als ich die Frage nach Instagram leider verneinen muss, schütteln die beiden ungläubig den Kopf. Ich biete stattdessen eine Freundschaft über Facebook an, aber die beiden geben mir zu verstehen, dass diese Plattform doch Schnee von gestern sei. Es ist gut, wenn die eigenen Kategorien des Denkens ab und an durchgeschüttelt werden.

Immer wieder gilt es auf der Küstenautobahn lange Tunnel zu durchqueren, die bei den Radfahrern auf dieser Route gehasst und gefürchtet sind. Sie sind teilweise bis zu 4 Kilometer lang und die Geräuschkulisse in ihnen so schrecklich, dass sich jeder LKW, der drohend näherkommt anhört, wie ein brüllendes Ungeheuer. Es ist purer Stress, aber es hilft nur die Tunnel mit Todesverachtung schnell hinter sich zu bringen. Während ich mit höchster Konzentration versuche meine saubere Linie zu fahren überkommen mich immer Gedanken daran, was passieren würde, wenn nun mein maroder Hinterreifen platzen würde. Wenn ich wieder ans Tageslicht komme, bin ich immer schweißgebadet.

An der Schwarzmeerküste befinden sich mit ein wenig Glück immer wieder Strände an denen man sein Zelt aufschlagen darf. An sich eine großartige Sache, aber das bunte Treiben ist doch ein Kontrast zu meinem bevorzugten Camping und ich habe das Pech inmitten der Reichweite der Boxen von Technoliebhabern, türkischen Rapfans und einem Pärchen zu sitzen, das stundenlang schrecklich jaulende Arabesque-Karaoke zum Besten gibt. Das Leben muss anders gewesen sein, bevor jeder in der Lage war seine Mitmenschen zu terrorisieren.

Umso näher ich Trabzon komme, desto seltener findet man geeignete Strände um das Zelt aufzubauen. Sie sind entweder zu steil, zu klein oder unzugänglich. Der schwarze Sand der Region gibt dem Meer einen besonders schroffen Charme. Als ich schließlich einen geeigneten Strand finde, ist noch eine Familie zugegen, die sich hier aus Stangen, Planen und Blechen eine provisorische Sommerbleibe eingerichtet hat. So kommen auch jene in den Genuss eines „Zweithauses am Strand“, die dafür eigentlich kein Geld haben. Kaum habe ich mein Zelt aufgebaut werde ich auch schon zum Abendessen eingeladen. Es fängt an zu regnen und man bietet mir an, dass ich mit meinem Zelt unter ihren Unterschlupf umziehen kann, aber ich will weder ihnen noch mir Umstände machen. Als ich mich gerade von der Familie verabschiede kommt eine einzelne kraftvolle Böe auf, die mein Zelt greift und die 20 Meter über den Strand schleudert, bis es an dem angebotenen Unterschlupf hängen bleibt. Damit wäre auch das entschieden. Es ist ein herrliches Gefühl die Nacht im Trockenen zu verbringen und auf das Meer und den Vollmond zu starren, während ein Lagerfeuer gegen die Flammen ankämpft. Am nächsten Tag kommen Ali und sein Bruder am frühen Morgen für ein gemeinsames Frühstück, bevor es die letzten Kilometer nach Trabzon weitergeht.

Wenn man sich anschaut, wo der Islam unter welchen Bedingungen entstanden ist, dann kann man sich leicht vorstellen, wie man sich das Paradies in dieser Religion vorstellt. Genau dies führt dazu, dass sich Trabzon bei arabischen Touristen größter Beliebtheit erfreut. Es ist die zweitregenreichste Stadt der Türkei und wenn auch der Bauboom der vergangenen Jahrzehnte sie mittlerweile groß und hässlich gemacht hat, kann man noch immer erahnen, wie malerisch sie sich einst zwischen dem schwarzen Meer und den üppig bewachsenen, häufig nebelverhangenen Berghängen angeschmiegte. Die Stadt stresst mich, aber nach den letzten 350 Kilometern am Stück wollte ich mir einen Ruhetag genehmigen und habe Nuri über Couchsurfing angeschrieben. Es stellt sich als Glücksfall heraus. Nur 8 Kilometer vom Stadtzentrum, aber auf 500 Höhenmetern verbringt der 61-Jährige seinen Ruhestand in einem Haus mit großem Nutzgarten, das auf den Grund eines ehemaligen Haselnassgartens errichtet wurde. Er hat dort schon mehr als 200 Gäste über die Plattform bei sich aufgenommen. Es ist ein kleines Paradies und die Bedingungen sind so günstig, dass vieles sich selbst aussäht und alleine wächst. Ich bin froh, dass ich der Stadt entkommen bin und verspüre für meinen freien Tag, wie so oft, keine stadttouristischen Ambitionen. Stattdessen bitte ich Nuri, dass ich ihm im Garten helfen kann und er gewährt mir diesen Wunsch schließlich. Es tut gut seine Hände zur Abwechslung für ehrliche Arbeit zu verwenden und auch auf diese Weise meinen Dank auszudrücken. Aus den geplanten zwei Nächten werden schnell fünf.

Nuri spricht kein Englisch, aber dafür ein wenig Deutsch. Wir führen lange Gespräche und besonders berührt bin ich von seinen Schilderungen, wie er in den 80er Jahren, in den Zeiten der großen Auseinandersetzungen zwischen türkischen Rechtsextremen und linken Gruppierungen und nach dem Militärputsch wegen seiner Sympathie zu einer linken politischen Gruppe zu fünf Jahren Haft verurteilt wurde. Im Gefängnis wurde er gefoltert. Nuri hat sich trotz all dem sein kritisches Denken, sein Gerechtigkeitsempfinden und seine Liebe für die Menschen behalten und ich bewundere ihn sehr dafür. Ich kann mir nur schwer vorstellen, wie es ist, in einem Staat zu leben, der einem solch ein Leid und solch ein Unrecht angetan hat.

Als ich nun mehr 80 Kilometer von der georgischen Grenze entfernt bin, verändert sich die Landschaft einmal mehr. Ich bin im bedeutendsten Teeanbaugebiet der Türkei und beeindruckt, an was für steilen Hängen der Anbau dieser Pflanze möglich ist. Immer wieder komme ich an Teefabriken vorbei, die die Seeluft mit dem würzigen Aroma des fermentierenden Tees bereichern. Aus den Bergketten kommen Flüsse mit kristallklaren Wasser heruntergeflossen, die die Küstenlinie teilen und an den unglaublich warmen Spätseptembertagen eine angenehme Kühle mit sich bringen. 40 Kilometer vor der Grenze wird mir der Blick auf die Natur von tausenden von LKWs versperrt, die sich auf dem Seitenstreifen stauen. Mit Bratpfannen und Teekesseln bewaffnete, halbnackte Brummi-Fahrer aus der Türkei und Zentralasien schieben ihre Bierbäuche zwischen den Lastern hin und her, um es sich mit ihren Landsleuten gemütlich zu machen und die Wartezeit zu verkürzen. Von den bedruckten Planen der Anhänger ruft mir der deutsche Mittelstand seine kernigen, aber unkreativen Firmenslogans entgegen.

Im letzten Ort vor der Grenze will ich mir noch einmal den Luxus einer Rasur gönnen, um zum drohenden Stelldichein mit den türkischen Grenzern auch möglichst adrett und gewinnend daherzukommen. Ich kriege das komplette Programm und der Friseur zeigt ein unglaubliches Geschick bei der Arbeit. Mein Haar wird gewaschen, geföhnt, gekämmt, Augenbrauen, Nase und Ohren werden mit heißem Wachs malträtiert, ich werde rasiert, eingecremt, mit Limonade verköstigt und am Ende bietet man mir noch eine Zigarette an, obwohl ich doch nur nach einer Rasur gefragt habe. Ich bin Zyniker genug, um erwarten, dass ich für dieses Premiumprogramm wohl zur Tasche gebeten werde, aber das Gegenteil ist der Fall. Der Meister will kein Geld von mir annehmen. Er hat all sein Können gezeigt, um mir eine Freude zu bereiten. Ich bin schwer beeindruckt von dieser Geste der Großzügigkeit, ein wenig beschämt über mein Vorurteil und mache mich mit einem warmen Gefühl im Bauch auf zur Grenze. Noch ganz selig von der erfahrenen Freundlichkeit tut es dann auch nicht ganz so weh, als ich für meine Visumsüberziehung 120 Euro Strafe zu zahlen habe.
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