Georgien – Unterwegs im Kleinen Kaukasus

Nachdem ich mich in der Türkei gut zurechtfand, fühlt sich Georgien nun an wie ein völliger Blindflug. Bisher habe ich über kein Land meiner Reise weniger gewusst. Es braucht wohl einige Tage, bis ich mich akklimatisiere, aber ohne Internet und Ansprechpartner ist es schwierig. Ich werde im Alltag lernen müssen. Der Verkehr Richtung Batumi ist nervenaufreibend. Als ich an einer roten Ampel halte, pöbelt mich ein Trinker von einer nahen Parkbank an und gibt mir lautstark zu verstehen, dass ich trotz Rotlicht weiterfahren soll. Er wirkt besänftigt, als ich seinem Rat folge. Wie heißt es so schön: Wenn der Schüler bereit ist, zeigt sich der Lehrer.

In Batumi sind die Neonreklamen aus der Hölle allgegenwärtig. Nahezu kein Haus bleibt vor ihnen verschont. Wenn man den Blick in den Vororten über sie hebt, dann dominieren die Bauten aus sozialistischer Zeit, die – wie gebrochene Versprechen – verwahrlost in die Höhe ragen. Zum Stadtzentrum hin werden sie von den Hochglanzbauten des aktuellen Baubooms abgelöst. Es ist einer der seltenen Tage meiner Reise, in der ich gerne Gesellschaft hätte. Ich streife durch die Straßen, aber es will sich keine Situation mit anderen Menschen ergeben.

Anstatt in der Stadt Trübsal zu blasen, mache ich mich gleich am nächsten Tag auf in den „kleinen Kaukasus“. Der Name ist irreführend, denn die kommenden 100 Kilometer werden mich über den Goderzi-Pass auf 2050 Meter führen. Erhebungen dieser Größenordnung werden die kommenden Wochen wohl zu meinem Alltag gehören, aber noch flößen sie mir Respekt ein und sind neu und ungewohnt. Kein Wunder, wenn die meiste Zeit des eigenen Lebens der Brocken mit seinen läppischen 1142m in Sachen Höhe alles in Relation setzte.

Die Straße, die mich durch die Vororte und Kleinstädte führt ist katastrophal. Sie besteht aus mehr Löchern als Asphalt und manche von ihnen sind gefährlich tief. Entlang der Straße stehen riesige Platanen, Kühe grasen zwischen den Bäumen, verirren sich manchmal auf die Straße und alles strahlt etwas Sumpfiges und Unfertiges aus. Einige Male werde ich von ramponierten Autos und Kleinbussen abgedrängt, die versuchen ihre stoßdämpferfreundliche Linie zu fahren.

Erst nachdem ich die letzten kleinen Städte verlassen habe und in das Tal einfahre wird es malerisch schön. Die nun perfekte Straße folgt einem Fluss, links und rechts von mir ragen die Ausläufer des gewaltigen Gebirges in die Höhe und entgegen der Vorhersage ist das Wetter zum Radfahren genau richtig. Selten hat mir mein Weg so viel Freude bereitet. Normalerweise schlage ich auf langweiligen Strecken die Zeit oft die mit Hörbüchern tot, aber hier genieße ich einfach zu sein und gemütlich vor mich hin zu strampeln. Nach dem ich mich in der Stadt so unzufrieden gefühlt habe, könnte ich jetzt nicht glücklicher sein. Es fühlt sich ein wenig an wie ein schöner Traum.  

Unter einer Brücke finde ich an dem Adschariszqali-Fluss einen geeigneten Schlafplatz und habe vor dem Sonnenuntergang noch genügend Zeit mein Zelt für das angesagte Unwetter zu befestigen. Eigentlich bin ich beim Zelten mittlerweile recht angstfrei, aber als dann die Nacht anbricht, die Blitze in der Ferne des Tals den Himmel erhellen und ich außer dem stürmischen Wind und dem Rauschen des Flusses nichts mehr höre, ist mir angesichts des Wissens um die Bären in diesen Bergen doch ein wenig mulmig zumute. Man gewöhnt sich schnell daran, dass die Dunkelheit die Sicht nimmt, aber dazu noch das Gehör „einzubüßen“ ist überfordernd. Es mir fällt dann schwer die schlechten Gedanken zu unterdrücken und ich atme erst auf, als ich mich ins Zelt zurückziehe. Am nächsten Morgen bin ich gerade dabei mein Lager abzubauen und achte wie immer darauf nichts zurückzulassen, als ein Autofahrer auf der Brücke über mir hält, um einen Sack Müll herunterzuwerfen, der unweit von mir in den Fluss platscht.

Auf der Karte sah die Route über den Goderzi-Pass aus, als wäre es eine Art „Bundesstraße“, aber die Realität könnte nicht weiter davon entfernt sein. Scheinbar hatte man vor wenigen Monaten angefangen die ganze Straße zu erneuern. So ist der für sich fordernde Aufstieg von 2500 Höhenmetern auf gerade einmal 50 Kilometer durch den erbärmlich schlechten Zustand der aufgerissenen Straße zusätzlich erschwert. Es herrscht erstaunlich viel Verkehr. Vollbesetzte Kleinbusse und Touristen mit ihren Jeeps ziehen an mir vorbei und unzählige Transporte, die meterhoch mit Heuballen beladen sind, kommen mir entgegen. Sie sehe ich gerne kommen, denn sie ziehen immer eine angenehm würzige Duftwolke hinter sich her; ganz im Gegenteil zu den uralten Lastwagen sowjetischer Bauart, die unter ohrenbetäubenden Krach und umgeben von einer schwarzen Abgaswolke an mir vorbeizuckeln und mich häufig hustend am Straßenrand zurücklassen.

Irgendwann wird mir bewusst, dass es mit meiner geplanten Abfahrt am gleichen Tag nicht klappen wird. Vielmehr bin ich mit der Dämmerung noch 200 Höhenmeter vom Pass entfernt, kann aber jetzt auch nicht mehr anhalten, weil ich nicht genug Wasser bei mir habe. Der Nebel wird auf dieser Höhe immer dichter, so dass ich bald schon nach einer Wasserquelle lauschen und nicht mehr Ausschau halten muss. Zu allem Überfluss fängt es auch noch an zu regnen.

Als ich endlich auf dem Pass ankomme finde ich zwar Wasser, aber habe dafür inzwischen auch jede Orientierung verloren. Es ist stockfinster und in diesem Schweinewetter scheinen Wolken in dem Schein meines Fahrradlichtes an mir vorbeizuziehen. Normalerweise ist die Gipfelankunft etwas Besonderes, Euphorisches, aber ohne Sicht zum Gipfelkreuz will sich auch kein Gipfelgefühl einstellen. Ich mache mich an den Abstieg, kann aber nicht einmal sagen, ob ich die Straße entlang oder quer auf ihr fahre. Ich muss mir eingestehen, dass das so nichts wird, halte an und hänge einige Minuten entmutigt über meinem Lenker. So löst man zwar keine Probleme, aber mit abgestützten Ellbogen habe ich das Gefühl die Situation besser ertragen zu können. Plötzlich nähert sich zu meiner Rechten der Schein einer Taschenlampe.  Ein vor der Zeit gealterte Bauer mit wettergegerbtem Gesicht ist verwundert mich unter diesen Bedingungen hier zu sehen. Als ich ihn nach „Camping“ frage, gibt er mir zu verstehen ihn zu folgen.

Er spricht kein Wort Englisch, aber versucht es mit seiner Zweitsprache Russisch. Das fruchtet bei mir wiederum nicht und im Dunkeln fällt auch die Möglichkeit der Zeichensprache weg. Die möglichen Missverständnisse sind immer etwas unangenehm, aber am Ende finde ich auf dem unebenen Grundstück einen Platz für mein Zelt. Mittlerweile regnet es kräftig. Der Bauer kam zur Straße, weil er ausgerechnet bei diesem Wetter dabei war, die Kartoffelernte des Jahres an die Straße zu schaffen. Sie soll ihn und seine Frau weiter unten im Tal über den Winter bringen. Er ist ein stolzer Dickkopf und will nicht, dass ich ihm helfe die Zentnersäcke zu schleppen und so hocke ich unter dem winzigen Vordach des Heuschobers, mache mich klein, um Schutz zu finden und fühle mich dabei schrecklich dumm und verloren.

Als schließlich aber noch jüngere Freunde eintreffen, die die Vorräte des Ehepaars mit einem Transporter abholen, übergehe ich das würdige Gehabe des Altbauern und packe mit an. Schließlich ist man glücklich über die Hilfe und ich bin froh, das Höflichkeitsspiel mit all seinen Fallstricken überstanden zu haben. Normalerweise bin ich ein guter Lakai, aber nach diesem Tag und bei diesem Wetter mache ich in meinen völlig durchgeweichten und rutschigen Sandalen keine gute Figur. Ich bin froh als nach den Zentnersäcken irgendwann leichtere Kisten mit eingemachtem Gemüse kommen.

Nach getaner Arbeit werde ich mit den anderen zu einem unerwartet üppigen Abendessen in der dürftigen Holzhütte eingeladen. So endet ein Abend, an dem ich zwischenzeitlich schon sehr verzweifelt war, doch noch auf schöne Art und Weise. Ich bin hundemüde und tiefenerschöpft, als ich mich um Mitternacht in mein abschüssiges Zelt lege. In der Nacht gesellt sich ein mächtiges Gewitter zu dem Regen dazu und man merkt, dass man der Urgewalt hier oben näher ist. Immer wieder werde ich vom Donner geweckt, der enorm hallt und mir durch Mark und Bein geht, aber ich bin zu müde, um mich ausgeliefert zu fühlen und schlafe schnell wieder ein.

Am nächsten Morgen ist es spannend aufzustehen und endlich die Umgebung zu erkennen, durch die ich die vorherige Nacht rumgetorkelt bin. Zwei Hunde warten bereits vor meinem Zelt und es kostet mich Mühe ihre matschigen Pfoten von meiner Luftmatratze fernzuhalten. Um mich herum gibt es dutzende von kleinen Almen, die allesamt nur im Sommer bewohnt werden. Es sind schiefe kleine Holzhäuschen, bei denen unten der große Stall für die Kühe und Schweine ist und darüber die Menschen wohnen. Gleich an der Hütte befindet sich immer ein großer Gemüsegarten, der mit einem groben Schwartenzaun eingefasst ist, um die Ernte vor den überall herumgrasenden Kühen zu schützen. Nach dem Trubel der letzten Nacht erscheint mir jetzt alles wunderbar friedlich hier oben. Die Sennerin ist so lieb und macht mir noch ein üppiges Frühstück aus Tee, Brot und einer Art Joghurt, bevor ich mich auf den Abstieg mache.

Es ist ein witziger Zufall, dass just in der Minute, die ich den kleinen Weg zur Straße hochgekraxelt komme, eine Gruppe von vier Radreisenden näherkommt. Sie sind allesamt aus Deutschland und wir machen uns gemeinsam an den Abstieg. Zu unserer losen Gruppe gesellen sich noch die zwei Hunde von meinem Zelt dazu. Einerseits ist es natürlich sehr angenehm und spannend ein wenig über die gemachten Erfahrungen zu plaudern, Tipps auszutauschen und einander von den tollkühnen Plänen zu berichten. Andererseits schenkt man in der Gruppe und im Gespräch der Natur nicht die gewöhnliche Aufmerksamkeit. Allerdings ist der Abstieg  ohnehin so fordernd, dass man den Blick kaum von der „Straße“ abwenden kann.  Es dauert fast drei Stunden, ehe wir die Schottenstraßen hinter uns lassen und wieder auf 1000 Metern sind.

Wir fahren gemeinsam bis zur nächstgrößeren Kreisstadt, wo sich unsere Wege trennen, aber unser aller Ziel ist Indien und so hoffen wir einander auf der Straße wiederzusehen. Die anderen machen sich auf den Weg nach Tiflis, aber ich brauche einen Tag, um einen eigenen Plan auszuhecken. Vielerlei Gründe haben die letzten Tage eine Idee in mir reifen lassen. Ich überlege statt der angedachten Strecke über Armenien in den Osten der Türkei zurückzukehren. Teils sind die Gründe politischer Natur, schließlich brodelt es in der Region derzeit an allen Ecken. Doch dann sind da auch ganz persönliche Gründe: Ich hatte die Türkei in dem halben Jahr sehr schätzen gelernt, aber habe während dieser Zeit eigentlich nur wenig vom Land gesehen. Ich würde gerne den wilden Osten Anatoliens bereisen.  Inzwischen hatte ich die Rückmeldung vom türkischen Generalkonsulat bekommen, dass trotz meiner Ordnungswidrigkeit keine Einreisesperre bestehen würde. Mit dieser Entscheidung war die Zeit in Georgien plötzlich sehr endlich und ich beschloss sie immerhin intensiv zu nutzen und mir viel anzusehen.

Das Sapara-Kloster hat die kriegerischen Jahrhunderte unbeschadet überstanden, weil es weit abseits von allen großen Straßen versteckt im Wald liegt.
Zaza war der erste Georgier mit dem ich ins Gespräch kam. Wie es der Zufall will, führt er eine kleine Brauerei.

Ich bin froh den kleinen Umweg nach Vardzia, einer Höhlenstadt aus dem 12. Jahrhundert auf mich genommen zu haben. Am meisten begeistern mich die unzähligen Schwalben, die in den Höhlen nisten. Wann immer man von den Höhlen wieder ans Tageslicht gelangt, kann man ihnen in Scharen bei ihren geschickten Flugmanövern, ihrer Jagd und ihrem Spiel zuschauen. Es sind mir die liebsten Vögel, denn sie erinnern mich an vergangene, glückliche Sommer und sie geben dem Jahr Struktur. Wie viele Male habe ich mir im Frühjahr von meinem Opa freudestrahlend berichten lassen, dass seine Schwalben wiedergekommen wären, wie oft wurde mir im Spätsommer mit Alltagstrauer in der Stimme erzählt, dass sie nun wieder fort seien.

Das Höhlensystem ist sehr beeindruckend und es macht Freude auf gut Glück irgendwelchen Gängen zu folgen. In einer kleinen Kapelle tief im Felsen gibt es wunderschöne 800 Jahre alte Fresken zu bewundern, allesamt schwarz, weil die Osmanen sie bei einem Feldzug verbrannten. Es ist eine ehrerbietungswürdige Atmosphäre, auch wenn die niederländische Touristengruppe es anders sieht. Nachdem ich mir in langen dunklen Gängen mittlerweile zum zweiten Mal den Kopf heftig gestoßen habe, beginne ich wie die Kreatur Gollum aus Tolkiens „Herr der Ringe“ mich vorsichtig durch das Dunkel zu tasten, bin dabei aber bedacht, dass mich niemand dergestalt zu Gesicht bekommt.

Es bleibt mir nur noch ein Tag in Georgien, ich habe noch etwas Bargeld übrig und so will ich es mir ein letztes Mal in einem Restaurant gutgehen lassen.  Auf der Terrasse war neben mir noch eine Gruppe von Männern anwesend, die dem Alkohol bereits gut zugesprochen hatten und bester Laune waren. Im Osten der Türkei musste ich nicht auf Ausschank hoffen und so bestelle ich mir mein vorerst letztes Bier. Kaum kommt das Bier an meinen Platz, es scheint einem geheimen Zeichen zu gleichen, werde ich von der fröhlichen Bruderschaft eingeladen an ihrem Tisch Platz zu nehmen.

Die nächsten drei Stunden komme ich nicht mehr von ihnen los. Ich werde mit unzähligen, viel zu deftigen Teigtaschen abgedichtet und wir trinken einen Vodka nach dem anderen. Beim Trinken gehen meine Kumpanen mit grimmiger Entschlossenheit zu Werke, aber sie verwunderten mich immer wieder, wenn sie zwischen dem Vodkagenuss georgische Lieder anstimmen. Sie singen erstaunlich schön und ich bin froh sie nicht zu verstehen. Rädelsführer ist ein Mann namens Roland, in dessen Gesicht der jahrzehntelange Alkoholmissbrauch schon tiefe Spuren hinterlassen hat, der es aber versteht seinem Amt als Tischmeister – trotz seines Zustandes – die nötige Würde zu verleihen. Seine Trinksprüche voller Inbrunst ähneln Litaneien aus der Sonntagspredigt. Meine zaghaften Versuche aufzustehen und mich auf den Weg zu machen, werden sogleich mit einem fleischigen Arm auf meiner Schulter, einem neuen Glas Vodka und einer weiteren Teigtasche unterbunden. Mittlerweile bin ich so angeschickert, dass ich alles ganz wunderbar finde und die unbekannten Melodien mitsumme.

Als schließlich ein schon betagterer Herr mit dem Kopf auf dem Tisch eingeschlafen ist, wittere ich meine Chance, bestelle für die Zechbrüder noch eine 0,5 Liter Karaffe Vodka (gerade einmal 4,50 Euro), bedanke mich für das gemeinsame Gelage und mache mich auf den Weg. Man gibt zum Abschied feste Handschläge und lange Ratschläge von denen ich kein Wort verstehe. Erst am Fahrrad merke ich, wie es tatsächlich um mich steht. Die geschmetterten Lieder, in die sich mittlerweile immer mehr Lallen eingeschlichen hatte, begleiten mich noch einige hundert Meter, in denen ich mich mehr schlecht als Recht auf dem Fahrrad halte. Mittlerweile ist es gerade einmal 15 Uhr, aber der Tag wird nicht mehr viel für mich bereithalten. Ich fahre die paar Kilometer zu meinem Schlafplatz der vergangenen Nacht, um meinen Rausch auszuschlafen.

Auch wenn ich am nächsten Tag keinen Kater habe, fühle ich mich doch ein wenig aus der Spur geworfen. Das Radfahren fällt mir schwer und bei der leichten, aber stetigen Steigung hat man nicht das Gefühl dynamisch voranzukommen. Ein kleiner Lichtblick inmitten der schlechten Laune ist ein kurzer Plausch mit Uschi und Hans. Die betagten Abenteuer aus Nürnberg waren nun einige Wochen im Kaukasus unterwegs und freuen sich nun ihre Reise in dem großen Weinanbaugebiet Georgiens ruhig ausklingen zu lassen. Es freut mich immer sehr, wenn ich mal wieder ein Beispiel dafür sehe, wie viele Arten und Wege es gibt „alt“ zu werden.

Auf den letzten 50 Kilometern zur türkischen Grenze glänzt der Straßengraben in der Septembersonne tausendfach und hell. Er ist über und über mit Glas- und Plastikflaschen zugemüllt. Wenige Kilometer später fand ich auch den Grund dafür: Wieder einmal warteten die LKWs zu hunderten vor der Grenze. Ab und an taucht ein kleines Dorf auf und immer wieder nehmen Hunde die Verfolgung auf. Mal lauern sie in den Straßen, mal pesen sie auf den Feldern von weit entfernt auf mich zu. Jedes Mal aufs Neue muss ich die Entscheidung treffen, ob ich davonfahren kann oder anhalten muss, um das immer gleiche Spiel zu spielen. Sobald ich anhalte und vortäusche etwas aufzuheben ziehen die Hunde wieder Leine oder bellen aus sicherer Distanz weiter. Ich glaube, dass ich einen guten Draht zu Hunden habe, aber das dachten bestimmt auch andere Narren, bevor sie ihre fehlende Demut mit einem Stück Wade bezahlten.  

Mittlerweile freute ich mich riesig auf die Türkei. Mein Gastgeber Nuri aus Trabzon hatte den wilden Osten, „das Alaska“ der Türkei in den größten Tönen gelebt und auch die Aussicht endlich den kurdischen Teil des Iraks zu bereisen, stimmt mich euphorisch. Der georgische Grenzer und ich sind im selben Alter und wir nehmen uns Zeit, uns gegenseitig die Vorteile des Lebens unseres Gegenübers zu versichern. Auf der türkischen Seite herrscht eine andere Gangart. Ich schaue stoisch in die Kamera, während mein Pass gelesen wird und der garstige Grenzer mir immer wieder missmutige Blicke zuwirft.  „Entry yok“ sagt der sonst wortkarge Polizist und versucht mich mit einer Geste wegzuscheuchen, mit der man sich gegen listiges Getier zur Wehr setzen würde. Ich versuche mich zu erkundigen, wo das Problem liege, ob ein Kollege von ihm Dienst habe, der englisch spreche, aber er stellt sich taub. In solchen Momenten ist es auch als „Erwachsener“ schwierig, sich nicht kindisch zu verhalten, wenn man mit so einer, sich nicht erklärenden, Autorität konfrontiert wird. Enttäuscht ziehe ich vom Schalter ab. Seit der großen Reinigungswelle nach dem sogenannten Putschversuch scheint ein AKP-Parteibuch zu genügen, um die gut dotierten Polizeistellen zu erhalten. Der Staat, das kälteste aller Ungeheuer. Als ich dort ziemlich entmutigt sitze überquert ein zotteliger Hund die Grenze und gesellt sich zu mir. So einfach könnte es sein.

Nachdem ich den ersten Schock verkraftet habe, finde ich einen Zollbeamten, der ein bisschen Englisch spricht und bei dem Grantler netterweise nochmal für mich nachhakt. Durch die Visumsüberziehung habe ich, entgegen der Angabe des Generalkonsulats, drei Monate Einreisesperre in die Türkei. In diesem Moment gehen mir merkwürdige Dinge durch den Kopf. Der Gedanke für den Winter nach Deutschland zurückzukehren wird plötzlich ganz präsent und mir fallen hundert Gründe ein, warum das eine gute Idee sein könnte. Die Komfortzone ist in Momenten der Schwäche immer besonders reizvoll. Dabei ist natürlich eigentlich nichts so schrecklich, wie ein Winter in Deutschland. Ich bin so enttäuscht, weil ich voller Hoffnung und Vorfreude war. Andererseits ist es einfach auch keine erstrebenswerte Situation kurz vor Sonnenuntergang im Grenzgebiet auf dieser Höhe zu sein.

Ich radele für einige Kilometer und baue schließlich mein Lager auf einem Stoppelfeld auf. Nach einer warmen Mahlzeit fällt es mir leichter mein Kreuz zu tragen, schließlich ist meine Situation auf meinen eigenen Mist gewachsen. Noch lange sitze ich im Dunkeln und genieße den Sternenhimmel. Es hört sich abgedroschen an, aber letztlich steckt hinter in Phrase ja auch ein wahrer Kern. Der Blick zu den Sternen hilft die eigenen Probleme in Relation zu setzen und nach einem guten Schlaf ist der Trubel schon fast vergessen.

So bleibt mir nichts übrig, als mich am nächsten Tag die 50 Kilometer zur nächsten Stadt und in Richtung Armeniens zu schleppen. Ich brauche Internet, um einen neuen Plan auszuhecken. Als ich in der kleinen Stadt Ninozminda ankomme, gibt es wegen eines Stromausfalls allerdings kein Wifi. Die Bedienung in einem Café schimpft auf die Russen. Als ich schließlich auf der Suche nach einem Gasthaus durch die Stadt irre, spricht mich ausgerechnet ein fahrradfahrender Russe an und lädt mich auf einen Kaffee zu sich nach Hause ein. Alexander ist Ende dreißig, Astrophysiker und hatte sich bereits 10 Tage nach dem Beginn des Angriffskrieges mit seiner Frau auf den Weg nach Georgien gemacht und ihr Leben in Moskau hinter sich gelassen. In dem kleinen Ort nahe der armenischen Grenze, in den mich nur die Notwendigkeit führte, scheint er sein Glück gefunden zu haben. Er ist ein sanftmütiger, sehr intelligenter Mensch mit einer großen Liebe zur Natur, einer gewissen Besessenheit für Vögel und er lädt mich ein für zwei Tage sein Gast zu sein.

Fast jeden Tag kommt Alex zu diesem See in der Nähe der Stadt, um die Vögel hier zu beobachten.

Wir unternehmen Radtouren durch die Umgebung von Ninozminda und Alexanders Faszination für die Natur des Kaukasus färbt auch auf mich ab. Mit leuchtenden Augen erzählt er mir davon, wie er vor kurzem auf einer seiner Nachtfahrten unter dem hellen Firmament einen Autofahrer auf der Landstraße traf, der einfach anhielt, um für viele Minuten den Sternenhimmel zu bewundern. So etwas würde es in Moskau, dieser gestressten, aggressiven Stadt nicht geben, gibt er mir wehmütig zu verstehen und es scheint für ihn ein kleines Schlüsselerlebnis gewesen zu sein.

Die letzten zwei Wochen hatte mir besonders das Zwischenmenschliche auf meiner Fahrt durch Georgien gefehlt. Wie soll man ein Land verstehen, wenn einem die Kommunikation vollständig fehlt? Alexander öffnet mir mit seinem Russisch und seinen Übersetzungen die Pforten zu dieser Welt. Auch wenn er ein typischer Technologie-Mensch ist, ist er den Menschen seiner Wahlheimat sehr zugewandt. So bekommen auch die kleinen eigentlich nichtigen Momente eine besondere Stimmung. Wenn wir beispielsweise in einem kleinen Dorf-Kiosk ein Gipfelbier für unsere Wanderung kaufen wollen, beide ahnungslos ob der Sortenvielfalt sind und sich der rüstige Marktbesitzer beim Feilbieten seiner Dosenbiere plötzlich wie der liebenswürdige Kenner und Sommelier gebärdet, der er wohl auch ist. Bei der Wanderung erzählt uns ein Bauer von seiner schweren wirtschaftlichen Situation, weil er ein Feld gepachtet hat, die Kartoffelernte dieses Jahr jedoch wegen der anhaltenden Dürre so schlecht ausgefallen ist, dass er nicht einmal weiß, ob er die Pacht bezahlen kann. Wenig später lädt uns das alte Ehepaar, an dessen Haus wir unsere Fahrräder für eine Wanderung abgestellt haben, uns bei unserer Rückkehr an eine üppige Kaffeetafel ein und Martyn, einst Tierarzt des Dorfes, erzählt uns mit Wehmut in der Stimme von einer Vergangenheit, in der er für die 1200 Kühe des Dorfes verantwortlich war, während die Gegenwart ihm nur wenig zu bieten scheint.

Ich bin sehr dankbar, dass ich durch Alexanders stille, euphorische Art nun das Leben der Menschen hier streife, während ich zuvor nur an ihnen vorbeigelebt habe. Es sind aufreibende Wochen und Monate für ihn, seit er seiner Heimat den Rücken zugekehrt hat. Besonders seit der Teilmobilmachung ist er mit seinen Gedanken woanders und telefoniert häufig mit seinen Freunden und Kollegen, die auf unterschiedlichem Wege versuchen Russland zu verlassen, um der Wehrpflicht zu entgehen. Da ist es eine schöne Ablenkung und Beruhigung gemeinsam Pflaumenmarmelade einzukochen, an den Seen die Vögel und am Himmel die Sterne zu beobachten. Schließlich macht sich Alexander auf nach Jerevan, um dort seine Frau zu treffen und für mich endet meine Zeit in Georgien. Vor ein paar Tagen hätte ich wohl nur schreiben können, dass ich mit „Gaumardschoss“ (Prost) den Schlüssel zum georgischen Herzen gefunden hätte, aber durch Alex habe ich nun wenigstens auch ein wenig Ahnung, wie dieses Herz schlägt.

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Christopher Rerrer

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