Irak – In den Bergen Kurdistans

Eigentlich fühle ich mich gerade eher nach Frühling an der mecklenburgischen Seenplatte. Der Nordirak wird vorerst wohl das letzte Land sein, das einfach zu bereisen ist und das soll schon etwas bedeuten. An der Grenze nimmt sich sofort ein Herr im Anzug meiner an und kümmert sich um mein Visum. Ich fühle mich etwas unwohl, weil ich an der Schlange vorbeibugsiert wurde, aber wo in Deutschland sich die Leute einschlägige Sätze um Schlagworte wie „Frechheit“ oder „Sauerei“ zusammen nuscheln würden, bleiben die Wartenden entspannt und lächelnd.

Mein Visum habe ich nach fünf Minuten im Pass, aber den Grenzbereich verlasse ich erst nach einer Stunde. Ständig halten Leute an, heißen mich in Kurdistan Willkommen, erkundigen sich woher ich komme oder ob sie mir helfen können. Nachdem ich mich mit den Zollbeamten geeinigt habe, dass man für ein Fahrrad keine Papiere braucht, wird die gewonnene Zeit für ein paar Schnappschüsse mit den Uniformierten verwendet.

Trotz des warmen Willkommens ist der Einstieg in Kurdistan ernüchternd. Auf einer dreispurigen Autobahn geht es durch hässliche Industrievororte Richtung Zakho. Tankstellen reihen sich wie bei einer Perlenkette aneinander. In der Stadt selbst scheint nichts historische Substanz zu haben und ich mache mich durch den schrecklichen Smog schnell an die Weiterfahrt, denn der Abend dämmert bereits. Auf einem Hügel neben der Autobahn finde ich einen schönen ungestörten Platz, mache ein Lagerfeuer und versuche mich an den Gedanken zu gewöhnen im Irak zu sein.

So fühle ich die kommenden Wochen durchgehend.

Am nächsten Tag geht es für mich nach Dohuk. Der Stadtname bedeutet auf Kurdisch „Kleines Dorf“, aber die Realität hat die Stadt längst eingeholt. Mit dem vergangenen Aufschwung der Autonomen Region Kurdistan sind viele Kurden aus der Diaspora zurückgekommen und ein enormer Bauboom hat die Stadt zu ungeahnter Größe anwachsen lassen. Die Aufnahme von Binnenflüchtlingen verstärkte diesen Effekt. Ab 2013 wurde Dohuk für all die Menschen ein sicherer Hafen, die vor ISIS flohen. 2017 fand dann in der Autonomen Region Kurdistan ein Referendum über die Unabhängigkeit statt, das mit 93% zwar positiv ausfiel, von der Zentralregierung im Irak jedoch als illegitim angesehen wurde. Die zentralirakische Armee rückte im Verbund mit schiitischen Milizen auf kurdisches Gebiet vor, es kam zu einer faktischen Verschiebung der Grenzen. Über Nacht verlor die ARK fast 50% ihres Territoriums. Darauf folgten erneut große Fluchtbewegungen.  

Was den Verkehr angeht, bin ich normalerweise recht unempfindlich, aber hier in Dohuk finde ich vorerst meinen Meister. Es sind 12 Kilometer, die ich bis zum Stadtzentrum durch Industrieviertel und Vororte muss. Die unzähligen Fahrzeuge – meist luxuriöse SUVs – blasen Unmengen von Feinstaub in die Luft und auf offenen LKWs werden ganze Ziegenherden an mir vorbeichauffiert, die eine markante Duftmarke hinter sich herziehen. Es herrscht eine schreckliche Luftqualität und ich bilde mir ein zu spüren, wie sich der Mief in meiner Lunge und in meinem Mund festsetzt.

Im Stadtzentrum selbst habe ich große Schwierigkeiten die Straßenseiten zu wechseln und stehe manchmal minutenlang am Straßenrand, bis ich mich an die Versen eines tollkühnen Rentners oder einer todesverachtenden Hausfrau mit Wocheneinkauf heften kann. Das Vertrauen, dass die Autofahrer schon genügend abbremsen werden, muss in jeder Stadt erst neu gewonnen werden. Bei dem regnerischen Wetter erscheint Dohuk wenig schön. Alles sieht aus, wie Städte nun mal aussehen, die mit schnellem Geld, aber ohne Plan entworfen wurden.

Bei Städten in dieser Größenordnung ist es leicht während des Ramadans Restaurants zu finden. Der Sichtschutz schützt die Sünder vor den tadelnden Blicken der Frommen und die Frommen müssen sich so nicht über die Fastenbrecher aufregen. Eine praktische Lösung, um den Burgfrieden zu sichern. Tatsächlich verschwinden die Menschen mit der gleichen verdächtigen Beiläufigkeit im „Eingang“, wie ich es auch im Frankfurter Bahnhofsviertel bei den einschlägigen Etablissements häufig beobachten konnte.

Über Couchsurfing komme ich bei Kathleen unter. Die Kanadierin lebt bereits seit 2017 in Dohuk und leistete über NGOs zuerst humanitäre, dann Entwicklungshilfe und versucht auch sonst einen möglichst positiven Einfluss auf ihre neue Wahlheimat zu haben. In den vergangenen Jahren hat sie über 160 Gäste aus aller Welt in ihrem Haus Unterschlupf gewährt, das auch als Auffangstation für Straßenkatzen dient. Falls jemand eine Katze adoptieren möchte oder die Arbeit mit einer Spende unterstützen möchte, der kann dies hier tun. Eigentlich wollte ich nur die drei Tage schweren Regens abwarten, aber mit Kathleen, den elf Katzen und Johanna, einer anderen Couchsurferin, die für ihre Doktorarbeit hier in Dohuk Forschung betreibt, ist es so nett und lehrreich, dass daraus eine Woche wird.

Man muss ein echter Katzenfan sein, um Kathleens Gast zu sein. Jeder Couchsurfer teilt sich seinen Raum mit zwei Katzen. Es werden auch Adoptionen nach Europa möglich gemacht. Für Interessierte gibt es unter dieser Facebookseite „Cat Rescue in Kurdistan – CRNK“ weitere Informationen.

Eines Abends scheinen sich die Himmelspforten zu öffnen. Der Starkregen, um den ich mich bereits vor einer Woche gesorgt habe, geht nieder und verwandelt das Antlitz der Stadt. Die Kanalisation ist nicht für solche Wassermengen konstruiert oder vielleicht gibt es auch keine. Wahre Sturzbäche fließen die Gossen hinab. Es ist die Stunde der Armen und der Latschenträger. Sie gehen gemäßigten Schrittes durch die Fluten während jene, die etwas zu verlieren haben, in einem rumpelstielzchenhaften Galopp die Straßen zu queren versuchen.

In einem Tagestrip besuche ich Lalisch. Es ist die heilige Stätte der Jesiden. Seit jeher war diese Religionsgruppe der Verfolgung ausgesetzt und so verwundert es nicht, dass ihr Heiligtum versteckt in den Bergen liegt. Jetzt im Frühling, nach dem Starkregen der vergangenen Tage, liegen die Berge in einem üppigen Grün dar. Nach den Tagen in der Großstadt voller Beton und Hektik kommt es mir paradiesisch friedlich hier vor. Das Neujahrsfest der Jesiden nähert sich und so sind nun bereits viele Jesiden aus der Diaspora vor Ort. Gefühlt jeder dritte spricht Deutsch und diejenigen, die Wissen über ihre Religion und ihre Kultur haben, sind froh es mit mir zu teilen. Männer, Frauen und Kinder sind festlich gekleidet und erscheinen mir allesamt schön und strahlend, obwohl die jüngste Vergangenheit soviel Grauen über sie gebracht hat.

Lalisch ist nicht nur ein einziger Tempel, sondern ein riesiger Komplex von Grabstätten, Tempeln, Wohngebäuden und Quellen.
Sieht nach Plastikmüll nach Hochwasser aus, ist aber ein wichtiges Ritual der Jesiden. Man bindet einen Stoffstreifen um die Bäume an diesem Ort und wünscht sich etwas.

Ich bin dankbar dafür, dass sich die Leute die Zeit nehmen, um ihre Kultur mit mir zu teilen, denn es gibt viele Rituale und Regeln, die aus Respekt geachtet werden wollen. So müssen alle Besucher bereits an der Zugangsstraße, im profanen Bereich, ihre Schuhe ausziehen. Eine schwarze Schlange neben einem Eingangstor markiert das Allerheiligste. Im Christentum kommt die Schlange nicht gut weg, aber für die Jesiden ist sie ein heiliges Tier. Der Sage nach, drohte während der Sintflut Noahs Arche wegen eines Lecks zu sinken. Die Schlange opferte sich, füllte das Leck mit ihrem Leib und sicherte so das Überleben aller anderen Wesen.

Ein Freiwilliger weist am Eingang die Besucher darauf hin, dass die Türschwelle nicht betreten werden darf.

Besonders begeistert mich ein Ritual tief im Inneren des Tempels. Der Raum ist vom Ruß der Jahrhunderte geschwärzt und unzählige Füße haben den Lehmboden sehr ungleichmäßig verdichtet. Mit geschlossenen Augen versuchen die Menschen hier ein Tuch aus drei Metern Entfernung so zu werfen, dass es auf einem kleinen Felsvorsprung liegen bleibt. Wenn es drei Mal gelingt so erfüllt sich ein Wunsch. Ich schlage mich wacker und so versichern mir die Umstehenden, dass ich nächstes Jahr heiraten werde; scheinbar der größte Wunsch eines jeden.

Es herrscht eine wunderbar ausgelassene Stimmung. Es wird musiziert, getanzt, aber auch geschlachtet und geschmaust. Weil Jesiden nur in Lalisch getauft werden können, kann man kurz vor dem Neujahrsfest leicht Zeuge dieses Brauchs werden.

Zurück in Dohuk gehe ich aus Neugierde mit zu dem wöchentlichen Treffen einer christlichen Ex-Pat Gemeinschaft, der sich Kathleen angeschlossen hat. Bibelstudien auf Englisch scheinen außerhalb meiner Englischkenntnisse zu liegen, doch es ist interessant von all den unterschiedlichen Biographien zu erfahren, die die Menschen hierhergebracht haben. In den Erzählungen werden komplexe Biographien darauf runtergebrochen, dass Gott sie hierher berufen hat. Allerdings tue ich mich schwer mit dem missionarischen Charakter, denen manche der angelsächsisch-evangelikalen Anwesenden ihren Aufenthalt hier geben. Mir kommt es insbesondere schändlich vor, da eine Abkehr vom Islam hier schwerste Konsequenzen mit sich bringt.

Allerdings bin ich sehr froh hier Benni kennenzulernen. Zur Recherche über die Region habe ich seinen Blog gelesen. Er ist sozusagen der einzige Radfahrer Kurdistans, aber leistet in mehrfacher Hinsicht Pionierarbeit. Noch immer sind tausende von Binnenflüchtlingen und insbesondere die Jesiden, die ISIS in seiner Barbarei auszulöschen versuchte, in Zeltcamps außerhalb der Stadt untergebracht. Benni versucht ihnen mit Hilfe meines Lieblingssportes, Ultimate Frisbee, wesentliche Werte beizubringen. Beim Ultimate gibt es keinen Schiedsrichter und so wird von allen im besonderen Maße ein fairer Umgang, Regelkenntnis und Partizipation gefordert. Werte, die auch in einer Demokratie wichtig sind. Mittlerweile hat er schon zehn Jugendteams und ein Erwachsenenteam aufgebaut und Trainer angelernt. Ich habe nicht erwartet sobald noch einmal spielen zu können und bin überglücklich mit den Kindern gemeinsam zu trainieren.  

Kathleens Begeisterung für den Nordirak hat in der vergangenen Woche sehr auf mich abgefärbt und so mache ich mich mit viel Neugelerntem und einigen Tipps auf den Weg Richtung Norden. Ich möchte mir den Bergpalast Saddams anschauen, der auf einem 2100 Meter hohen Gipfel liegt. Ich fahre aus Neugierde noch zwei Stunden in die Dunkelheit hinein, aber bin noch weit vom Gipfel entfernt. Um den Sommer im Iran oder Pakistan zu überstehen, muss ich meinen Tagesablauf der unbarmherzigen Hitze zukünftig wohl oder übel anpassen, Doch es ist kurz vorm Ende des Ramadans und in dieser mondlosen Nacht verliert das Radfahren seine Schönheit.

Blick auf die Stadt und den „Dohuk Damm“ von den Hügeln oberhalb der Stadt.

Am nächsten Morgen steht mir noch ein schrecklicher Aufstieg bevor. Für die letzten siebzehn Kilometer benötige ich fast drei Stunden. Teilweise sind die Anstiege so lächerlich steil, dass ich überlege einfach umzukehren, aber ich habe einen Narren an dem Gedanken gefressen, mir in der guten Stube des Diktators etwas zu kochen und ein wenig zu arbeiten. So schleppe ich mich mit Schrittgeschwindigkeit weiter den Berg hinauf. Als ich schließlich mit völlig verspannten Oberschenkeln oben ankomme, scheucht mich ein Mann in Militäruniform weg ohne auch nur ein Wort mit mir zu sprechen. Ich versuche andere Besucher und einen gerade wegfahrenden Offiziellen für mein Anliegen zu gewinnen, aber der Torwächter lässt sich nicht erweichen. Die Historie solcher Ablehnungen in meinem Leben ist kurz, aber nach sieben Stunden Fahrtzeit erscheint es mir besonders fies.

Das Glamouröse hat die Villa verloren. Heute scheint man sie wegen der besonderen Lage als Kommunikationsbasis zu nutzen.
Die Minenwarnschilder vor Ort mischen dem Gipfelgefühl etwas Unbehagliches bei

Bei der Abfahrt bietet sich mir ein Bild, was den Groll vergessen lässt und Kurdistan wohl perfekt charakterisiert. Ein Pickup hat mitten in einer Kurve angehalten und fünf traditionell gekleidete, alte Männer haben hier mitten in den Bergen ihre Gebetsteppiche ausgebreitet, um in Richtung Mekka zu beten. Für die drei Sekunden, die ich sie sehen kann, berühren ihre Köpfe in völliger Weltvergessenheit den Boden. Die Religion und die Berge. Kurdistan.

Da mir mein mondänes Mittagessen verwehrt wurde, muss ich Vorlieb mit einem bodenständigeren Platz nehmen, aber selbst dies gestaltet sich hier oben schwierig. Immer wieder warnen Schilder entlang der Straße vor Minen und wenn ich an einer geeigneten Stelle mal keine vorfinde, macht mich das nur nervöser.

Nicht einmal zwanzig Kilometer später komme ich bereits zu der nächsten Villa Saddams, deren Gelände von einer unglaublich langen Mauer eingefriedet ist. Fast alle Sichtsteine der Mauer wurden rausgebrochen und ich erkenne sie in vielen Hauswänden der umliegenden Dörfer wieder. Diesen Tag suche ich insgesamt drei Mal kleine Läden auf, um etwas gegen die gefühlte Unterzuckerung zu unternehmen. Es sind kleine Einkäufe, aber man lässt sie mich nie bezahlen. Ich ehre die Großzügigkeit, aber überlege auch, wie ich einen Weg finden kann, um doch mein Geld vor Ort zu lassen.

An klaren Tagen kann man von diesem Saddam-Anwesen seinen Bergpalast sehen.
Am Abend finde ich an den Hängen der Festungsstadt Amedyie in den Ruinen einer alten Koranschule den perfekten Ort zum Schlafen. Ich fühle mich in den alten Mauern geborgen und sitze noch bis zum Vormittag im Schatten der Mauern, versuche den Hauch der Geschichte einzuatmen, lese und schreibe.

Es ist gerade mal Mitte April, aber die Temperaturen scheinen sich stetig auf die 30 Grad zuzubewegen und das UV-Level ist mit 9 bedenklich hoch. Ich frage mich, wie ich die kommenden Monate überstehen soll. Ich merke immer dann, dass ich ein Polizistensohn bin, wenn die Kinder im Straßenverkehr mich nervös machen. Die Babys werden auf dem Schoß gehalten, Kleinkinder halten ihre Köpfe aus dem Fenster oder schauen stehend durch das Dachfenster hinaus und wenn die Kinder nur ein paar Jahre älter sind, dann sitzen sie bereits selbst am Steuer.

Ich folge dem großen Zab Fluss in Richtung Osten und kann mich nicht an der Landschaft satt sehen. Ich hätte mir niemals vorstellen können, dass der Irak so schön grün und blühend sein kann. Kathleen hat mir eingebläut auf keinen Fall die Straße in Richtung Norden zu verlassen. Erst im vergangenen Jahr kam es auf einer Schotterstraße nahe der türkischen Grenze zu einer Tragödie. Eine Straßenmine detonierte unter zwei dänischen Radreisenden, verletzte einen schwer und tötete den anderen.  

Ich nehme an, dass dies auch der Grund ist, warum ich fast eine Stunde im Büro des „Kommandanten“ an einer Straßensperre warten muss. Von militärischem Drill und Disziplin spürt man bei den Peschmerga hier nur wenig, wenn sie am Handy daddeln und in ihren jogginganzugartigen Uniformen rumlungern. Für 350 Euro Monatsgehalt würde sich meine Motivation auch in Grenzen halten. Später erfahre ich, dass viele rangniedere Peschmerga in der freien Zeit häufig noch einen Nebenjob haben. Mein Pass wird fotokopiert und wohl eher aus persönlicher Neugierde als aus möglichem Erkenntnisgewinn sehr lange beobachtet. Im Viertelstundentakt betreten Diensthöhere den Container bis endlich jemand kommt, der genug Englisch spricht, um mir zu sagen, dass die Straße zu einem bestimmten Dorf gesperrt sei.

In einer kleinen Stadt werde ich Mal wieder von einem „Influencer“ aufs Korn genommen. Scheinbar ist er stets vorbereitet und auf der Lauer, dass ein Reisender des Weges kommen könnte. Er spricht eigentlich kein Englisch, aber sobald er mich in den Schatten bugsiert hat, holt er einen abgegriffenen Zettel aus seiner Hosentasche und liest seine Interviewfragen vor. Es ist ein unverständliches Kauderwelsch, aber ich schätze seinen journalistischen Anspruch. Mit ein wenig Glück verstehe ich wenigstens das Fragewort und erzähle frei von der Leber, bis sich ein zufriedenes Lächeln auf seinem Gesicht abzeichnet.

Manchen Abend bin ich weit genug von den Ortschaften entfernt, dass ich den Ruf des Muezzins nicht vernehmen kann, doch auf eine etwas unheimliche Art und Weise erfahre ich trotzdem vom Ende des Fastentages. Die Schakale in den Bergen nehmen den Gebetsruf zum Anlass, um die Wette zu heulen. Weil ich weiß, was ich dann höre, kann ich es aushalten, aber ehrlich gesagt hört es sich an wie ein Rudel Dämonen.

Leute interessieren sich immer sehr dafür, wie viele Kilometer man pro Tag auf so einer Radreise macht. Dieser Abschnitt der Reise ist wieder einmal ein gutes Beispiel dafür, warum die Antwort nicht leichtfällt. Auch hier in Kurdistan sitze ich meine gewohnten fünf bis sechs Stunden auf dem Sattel, aber komme nicht richtig voran. Zum einen sind da die Menschen, die häufig anhalten, mich grüßen und fragen, ob sie mir helfen können. Zum anderen sind da die Berge und wenn ich mir meinen chronischen Sonnenbrand anschaue, scheint es eigentlich wichtig zu sein, mich die Mittagsstunden im Schatten zu verkriechen. Jetzt im Ramadan fällt das hier allerdings nicht leicht. Restaurants haben in den Kleinstädten konsequent geschlossen und es scheint abseits von der Moschee wenige „öffentliche“ Plätze zu geben.

Am späten Nachmittag führt mich mein Weg zu einem Hochplateau hinauf. Erst ist mir bange, als ich das mir Bevorstehende erkenne. Als ich dann aber mit zwei Snickers im Bauch und Musik im Ohr schließlich einen Rhythmus finde, macht es mir sogar Spaß, die 600 Höhenmeter auf gerade einmal 10 Kilometern zu überwinden. Vielleicht entwickele ich doch noch den Hang zur Selbstgeißelung, der richtigen Radfahrern stets eigen ist. Vielleicht ist es aber auch einfach die atemberaubende Landschaft und all die netten Leute, die mir aus ihren Autos zuwinken, mich anfeuern und mir das Gefühl geben bei einem Rennen teilzunehmen.

Die kommende Nacht wird kurz. Es ist das Ende des Ramadans und bereits vor dem Sonnenaufgang weckt eine endlos lange und rasant gesprochene Predigt das Tal. Begleitet wird sie von dem dürftigen Gejaule eines nahen Hundes. An Schlaf ist nicht mehr zu denken und als ich mich schließlich aus dem Schlafsack pelle, versuche ich den Störenfried ausfindig zu machen. Es ist ein kleiner Welpe, der sich aus Müll unter einem überstehenden Steinhaufen einen kleinen Unterschlupf gebaut hat. Sie hat die Stimme eines Frettchens, aber das Herz einer Löwin. Nach anfänglichem Fremdeln verbringen wir die nächsten sechs Stunden zusammen.

Manchmal wünsche ich mir, dass das Leben dergestalt zu mir kommt und ich mich ändern muss. Im Verlauf des Vormittags merke ich aber, dass ich für eine solche Veränderung doch noch nicht bereit bin und lass meine Freundin schweren Herzens, aber mit einer großen Portion Couscous mit Thunfisch zurück. Bekannte, die ich wegen der Geschichte anschrieb versicherten mir, dass es hier tausende solcher Hunde gebe. Mein Exemplar sehe wohlgenährt aus und würde sich wohl bald einem Rudel anschließen.

Ich habe den vergangenen Monat zwar nicht gefastet, aber die heutige Feiertagsstimmung färbt auch auf mich ab. Kinder ziehen mit Einkaufstüten durchs Dorf, besuchen Verwandte, Nachbarn und Bekannte und lassen sich mit Süßigkeiten beschenken. Es ist eine gute Gelegenheit für mich mitzuspielen und so decke ich mich bei dem nächsten Markt mit einem Kilo Karamell-Toffees ein, die man mich mal wieder nicht bezahlen lässt.

Die Kinder tragen eine Fröhlichkeit im Herzen und eine Erleichterung im Gesicht, die sich aus der Gewissheit speisen, dass sie den letzten Monat gottgefällig gelebt haben. Vielleicht ist es aber auch schlichtweg die Riesentüte Naschkram, die ganz ihnen gehört. Alle sind festtagsfein und guter Dinge. Mit den Mädchengruppen entwickeln sich richtige Gespräche, während die Jungs sich mit mir schwertun, weil ich ihre Begeisterung für Fußball nicht teile. Manche von ihnen fürchten wohl, dass ihre Beute ihnen doch nicht ganz allein gehören wird. Ich schaue in zuckerverschmierte Gesichter und schlage in klebrige Hände ein.

Eine große Gruppe von Männern kommt erhabenen Schrittes auf mich zu und wir tauschen die Festtagsglückwünsche aus. Sie sehen wunderbar in ihren Trachten aus. Ich bin zu befangen, um ihrer Einladung zum Essen zu folgen, aber frage, ob ich ein Foto von ihnen machen dürfe. Wohlmeinend nimmt man mir stattdessen mein Handy ab und bugsiert mich in ihre Mitte neben einem gestandenen Peschmerga-Kämpfer, der Saddam bereits in den 80ern die Stirn geboten hat. Ihre Tradition, ihre Geschichte und der Feiertag verleihen ihnen eine besondere Würde, neben der ich mich – ungewaschen und in kurzen Hosen – etwas unbehaglich fühle.

Ein kurzes Gewitter vertreibt schließlich alle in ihre Häuser und mit einem halben Kilogramm Karamell-Toffees in der Lenkertasche, von denen ich nicht ablassen kann, mache ich mich auf die Weiterfahrt. Die Festtagsstimmung hält an und ein Vorbeifahrender lädt mich ein paar Stunden später schließlich so freundlich mit Gebärden zum Essen ein, dass ich nicht nein sagen kann. Musa gehört dem Stamm der Barzanis an, der bereits seit dem Zerfall des osmanischen Reiches und der Aufteilung des Gebietes durch das Sykes-Picot-Abkommen für eine kurdische Autonomie auf dem Boden des heutigen Iraks kämpfte. Er selbst ist Bodyguard für einen seiner, in der Politik aktiven, Verwandten und mit seinen beiden Söhnen aus Erbil hoch in die Berge gekommen, um dem Festtag in seinem Heimatdorf zu verbringen. Vor den Augen der großen Familie werde ich mit Unmengen von Essen abgedichtet. In Ländern in denen das Verschlingen großer Mengen mit netten Gesten und lieben Worten quittiert wird, fühle ich mich immer wohl.

Entgegen ihrer Natur erwecken Kurden auf Fotos eher einen grimmigen Eindruck.

Es ist schön zu sehen, dass es hier nicht anders zugeht, als bei Feiertagen in unseren Breitengraden, auch wenn die Tragödien jünger und anderer Natur sind. Seine Söhne sind trotz der Feiertagsstimmung ein wenig unfroh darüber, dem Dorfleben und den langweiligen Familienritualien ausgesetzt zu sein, seine Mutter erzählt mit Hilfe von Fotos vom Kummer der Vergangenheit, als ihr Mann und tausende andere Kurden in der Operation „Anfal“ von Saddam lebendig begraben wurden und der Vater versucht in seiner gutmütigen Art und ohne Englisch alles irgendwie zusammenzuhalten und dem Gast Ehre zu erweisen.

In kurdischen Städten gibt es immer viel Potential zum Kopfschütteln und Schmunzeln. Laut UN-Berichten ist der Irak auf Platz fünf der Liste der Länder, die am stärksten vom Klimawandel betroffen sind und trotzdem sind die Menschen hier Weltmeister im Wasserverschwenden. In fast jeder Straße sieht man ein größeres Rinnsal in der Gosse verschwinden. Überall leckt es, Wasserhähne laufen und die Wassertanks auf den Dächern laufen beim Befüllen über. Dem herrschenden kulturellen Sauberkeitsfimmel folgend, werden die Bordsteine von den Anwohnern ohne schlechtes Gewissen, verschwenderisch saubergespritzt. In einer Gesellschaft in der die Mehrheit der Gesellschaft in einer gott- und schicksalsergebenen Weise religiös ist und die Probleme des Alltags drängender sind, ist der menschengemachte Klimawandel wohl nur schwer vermittelbar.

Die Infrastruktur ist unzuverlässig. Wasser und Strom werden von der Regionalregierung nur für acht Stunden pro Tag bereitgestellt. Jede Nachbarschaft verfügt über einen Dieselgenerator, der die Luft verpestet und einen entsetzlichen Krach macht. Die Sicherungskäste der Häuser sind unter Sperrholzplatten an den Laternen auf der Straße angebracht und manchmal kann ich jemand kurzgewachsenes einen Gefallen tun, indem ich eine zu hoch angebrachte, rausgesprungene Sicherung wieder reinmache. Kurze Stromausfälle gehören zur Tagesordnung und dementsprechend nonchalant gehen die Menschen mit ihnen im Alltag um. In keinem Land habe ich mehr Leute kennengelernt, die ihre Haustür nicht abschließen und mir so wenige Sorgen um mein Fahrrad machen müssen.

Wenn ich in Deutschland mal wieder auf der Baustelle arbeite, werde ich diese Bilder zeigen, um das „Wir-Gefühl“ zu stärken.

In Soran empfiehlt mir mein Couchsurfing Gastgeber eine Wanderung in einer Schlucht. Der Weg ist nicht markiert, ist eigentlich nur ein Trampelpfad, von dem ich immer wieder abkomme. Weil ich die letzten zwei Monate nur Rad gefahren bin, stelle ich mich beim Gehen im Gelände nicht besonders geschickt an. Ich bin längst nicht so trittfest, wie man es hier sein sollte. Ein paar Mal verliere ich auf dem morgentaunassen Hang den Halt, lege mich aufs Mett und rutsche den Hang ein Stück herunter, bevor ich panisch wieder Halt finde. Dann wären da noch die Schlangen, auf die ich achtgeben soll. Ich muss mich ganz schön konzentrieren, aber wenn ich ab und an innehalte, um Luft zu schnappen, mich zu beruhigen und den Blick schweifen zu lassen, fühle ich mich jedes Mal wieder von den Kontrasten der Landschaft überwältigt. Die Zartheit des Blumenmeeres, durch das ich mir meinen Weg bahne, gerahmt von himmelhohen Gesteinsformationen, an denen das Rauschen der Stromschnellen des Flusses widerhallt.

Die wilde Wanderung endet an diesem unwirklichen Ort.

Auf der Etappe von Soran nach Erbil, der Hauptstadt der autonomen Region, verfluche ich mein Timing. Jetzt am letzten Eid-Feiertag scheint das halbe Land wieder unterwegs zu sein. Fast alle von ihnen auf sind auf dem Weg nach Erbil. Die Straße führt über Kilometer durch eine Schlucht. Der Verkehr läuft im Schritttempo. Wenn die Klippen einmal Platz für Wiesen am Straßenrand machen, dann sind sie über und über mit Picknickgruppen voll. Scheinbar gehört zu einem gelungenen Feiertagsausflug auch ein Foto mit einem verbrannten Touristen. In drei Stunden komme ich nur fünfzehn Kilometer voran.  

In einer kleinen Stadt werde ich von Mohammed angesprochen und zu einem Tee eingeladen. Er ist türkisch-stämmig und aus der multiethnischen Stadt Kirkuk. Seitdem man in den 60er Jahren große Ölfelder ist der Region gefunden hat, ist die Stadt zu einem Politikum geworden. Erst wurden die Kurden vom Regime Husseins vertrieben und man siedelte gezielt Araber an. Mit der irakischen Verfassung von 2005 wurde die Stadt zu einem „umstrittenen Gebiet“ erklärt und stand zunächst unter der Kontrolle der irakischen Zentralarmee. Die jedoch, floh vor dem vorrückenden Terrormilizen des IS, weshalb die Peschmerga ihre Gelegenheit sahen und die Stadt und sowie die reichen Ölfelder unter großen Opfern verteidigten. Nach dem Unabhängigkeitsreferendum 2017 rückte schließlich erneut die irakische Armee im Verbund mit schiitischen Milizen auf die Stadt vor. Offiziell und medienwirksam herrsche die irakische Armee, doch in der Realität sind es die schiitischen Milizen. Man hört häufig, dass sie der lange Arm Teherans seien. Willkür und Gewalt stehen an der Tagesordnung. Es ist eine bewegte Stadtgeschichte.

Mohammed (r.) und seine Sippe.

Nur vor diesem Hintergrund kann man verstehen, was Mohammed mir offenbart und was aus westlicher Perspektive, also als Opfer westlicher Desinformationskampagnen zum Irakkrieg, ungeheuerlich klingt. Vor fünfzehn Jahren hätte niemand so gesprochen, relativiert er das Folgende, aber in letzter Zeit, würden sich viele Menschen die alten Zeiten, das Regime Saddam zurückwünschen. Immerhin war der Irak stabil, im Ausland habe es als etwas gegolten, Iraker zu sein, und das Land war nicht geopolitischer Spielball der Groß- und Regionalmächte. Auch wenn die Gewalt entlang der ethnisch-religiösen Gräben zuletzt abgenommen hat, ist das Land doch noch längst nicht zur Ruhe gekommen.

Im Verlauf des Tages werde ich es nach Erbil schaffen und so genieße ich die Natur noch einmal intensiv. Abseits von allen großen Straßen führt mich ein Schotterweg durch hüfthohe Felder inmitten derer der wilde Mohn für wunderbare Farbsprenkel sorgt, über kleinere Gebirgsketten und durch langgezogene Täler. In den richtig kleinen kurdischen Dörfern sind es meistens nicht die Hunde von denen ich mich hüten muss, sondern die frischgebackenen Gänseeltern, die mich zunächst mit bösen Augen verfolgen und mich dann – ungeachtet meiner Größe – garstig zischend angreifen.

Die letzten zwei Stunden bis zur Stadt setzt ein schwerer Landregen ein. Ich genieße ihn mit der Gewissheit, dass es der letzte Regen bis zum Monsun in Pakistan sein könnte. Erst in der Stadt schlägt das Gefühl ins Negative um. Ich ekel mich vor den bunt schimmernden Wasserlachen auf dem bröckeligen Asphalt, die von Autoreifen zerteilt werden und ständig ihre Form ändern. Auch das Wässerchen in der Gosse macht einen unfrischen Eindruck und trägt viel Dickes mit sich. Ich fahre gewissermaßen mit ganz spitzen Fingern, als ein Geländewage mich überholt, eine der Ekelpfützen quert und ein Riesenschwung des Brackwassers in meinem Gesicht und Jackenrevers landet.

Erbil scheint sich Dubai zum Vorbild genommen zu haben. Rund um die Zitadelle und den Bazar herum, gibt es ein paar nette Ecken, aber ich habe schnell das Gefühl alles gesehen zu haben. Ich warte mittlerweile seit drei Wochen auf mein Iran Visum und es bereitet mir inzwischen Magenschmerzen. Es ist deutlich länger als veranschlagt. Mein Kontaktmann bei der Visa Agentur bescheinigte mir von Anfang an schlechte Chancen. Scheinbar hat er mich gegoogelt und erinnert mich an eine längst vergessene Jugendsünde. Aus Geldnot habe ich als Student ein paar Mal die Rechte an Hausarbeiten verkauft. Nach meiner Iran Reise vor sieben Jahren war ich so neugierig über das Land, dass ich mich auch „akademisch“ mit dem Thema beschäftigen wollte und schrieb eine Hausarbeit über „die charismatische Herrschaft“ des Ayatollah Khomeini.

Rustikales Frühstückslokal mit eingestürztem Nachbarhaus
Bevor billig Produkte made in China die Märkte überfluteten, mussten Bazare einen anderen Zauber ausgestrahlt haben.
Um zu zeigen, dass etwas neu ist, lässt man im Irak all den „Verpackungsmüll“ an den Autos. Plastik auf den Sitzen, Folien auf der Motorhaube und Schaumstoffpuffer an den Türen; das alles wird zum irren Statussymbol.
Ich unternehme lange Radtouren durch Erbil und genieße den wohligen Grusel bei den heruntergekommenen Ecken der Stadt.

Nach ein paar weiteren Tagen kommt sie, die Nachricht, dass mein Visumsantrag abgelehnt wurde. Der Traum ist aus. Ich bin enttäuscht, aber auch froh endlich Gewissheit zu haben. Das sinnlose Warten in einer Stadt, in der es nicht viel zu tun gibt, war die letzten Tage ein unschöner Kontrast zu meinem selbstbestimmten und erfüllenden Radleralltag.


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Aufgrund von Missverständnissen hier nochmal deutlich: Die Spenden gehen direkt an Ärzte ohne Grenzen e.V. und ich ziehe keinerlei Profit.

Christopher Rerrer

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