Türkei – Wildes Ostanatolien

Auf den Gipfeln der majestätischen Bergkette zu meiner linken sitzen die türkischen Militärstützpunkte wie Adlernester. Erst gestern flog Ankara in den Bergen unweit von meiner heutigen Route wieder Angriffe und auch heute höre ich zum Nachmittag das dumpfe Grollen der Bomben. Ich muss mich beeilen, denn alle haben mir abgeraten die Nacht in diesem latenten Kriegsgebiet zu verbringen. Ich bin auf dem Weg zu einem kleinen Grenzübergang zwischen dem Nordirak und der Türkei und erfahre erst unterwegs, dass dieser um 18 Uhr schließt. Aus der Not heraus versuche ich samt Fahrrad per Anhalter zu fahren und habe bei der großen Pickup-Dichte Glück. Einer meiner Samariter ist selbst Grenzpolizist und sagt, dass die Bomben mittlerweile die sanfte Musik zum Alltag der Menschen hier seien.

Eigentlich ist sowohl die Ladefläche als auch das Auto voll, aber drinnen rutscht man zusammen und draußen finden wir eine „Lösung“.

An der Grenze selbst gibt es Probleme. Man fragt mich immer wieder, wo der Stempel sei, der bezeugt, dass ich die Autonome Region Kurdistan über den Flughafen Erbil in Richtung Zentralirak verlassen habe. Dieses plötzliche Pochen auf die Eigenverantwortung finde ich befremdlich, schließlich hat man ansonsten als Schaf im Umgang mit der Obrigkeit die geringste Reibung. Ein netter Herr im Freizeit-Armee-Look begleitet mich durch die Stationen und hilft mir, indem er meine Worte wiederholt. Als wir beide abseits des Trubels bei meinem Fahrrad angekommen sind, fragt er mich, ob ich ihm etwas geben möchte. Ein erstaunlich offenherziger Versuch, aber ich kann ihm mein leeres Portmonee zeigen.  

Ich bin glücklich endlich wieder in der Türkei zu sein. Das Wissen um die Landminen auf der kurdischen Seite hatte etwas Bedrückendes. Die Grenzbeamten in meinem Alter sind herzlich und versorgen mich mit Bananen und Wasser. Die nächsten 15 Kilometer fahre ich hinab in eine Bergwelt, die ich vorher nur gestreift habe. Die Menschen grüßen und winken, Kinder stellen sich in Reihe auf, um einzuschlagen und ein Junge spielt mit seiner Spielzeugpistole, als ob er mich erschießen würde. Er drückt ganze sieben Mal ab. An sich ist es nicht der Rede wer, Kinder eben. Hier jedoch, wo die Gewalt ganz offen und unverschleiert zu Tage tritt, scheint die Handlung des Kindes wie ein Widerhall eben dieser.

Der große Zab.

Ebenso erdrückend ist die Präsenz der Sicherheitskräfte. Immer wieder führt mich mein Weg an den schwer befestigten Kontrollpunkten entlang, immer wieder überholen mich die riesigen, schwerbewaffneten Straßenpanzer der türkischen Armee. Als ich mit dem Einbruch der Dunkelheit mein Zelt in der Nähe des Flusses aufbaue, blitzt von einem nahen Berg plötzlich ein Scheinwerfer auf und erleuchtet meinen ganzen Zeltplatz für einige Sekunden. Ich versuche mich so zu verhalten, wie jemand, der etwas zu verbergen hätte, es nicht tun würde.

Weil mir in der Türkei nicht komplett die Sprache fehlt, fällt es mir leichter all die gastfreundlichen Angebote anzunehmen. Im Umkehrschluss bedeutet dies aber auch, dass ich kaum Strecke mache. Meinen ersten Tag in der Türkei mache ich dreimal Pause, um gemeinsamen Çay zu trinken und zweimal zum Mittagessen eingeladen.

Mein Weg führt mich wieder einmal entlang des großen Zab, der stromabwärts bei Mosul in den Tigris fließen wird. Die Steigung ist angenehm. Oft reichen die Berge so nah an die Straße, dass sie hier seltenen, wohltuenden Schatten spenden. Die Dörfer – die meist nur aus einem Dutzend Häusern bestehen – geben sich mit dem wenigen Platz zufrieden, der ihnen zwischen den Elementen bleibt. Um dem Wind Einhalt zu gebieten und sich mit schnellen Bauholz zu versorgen, pflanzen die Menschen Pappeln und so vermischt sich das gewaltige Rauschen des Flusses mit dem feinen Säuseln des Windes in den Kronen der Hochgewachsenen.

Mein erster Zwischenstopp ist Hakkâri. Die kleine Stadt ist auf 1700 Höhenmeter gelegen, von Dreitausendern umgeben und gute 1400 Kilometer Luftlinie von Istanbul entfernt. Eine große Türkeiflagge auf einem der Stadtgipfel und ein steinernes Türkeiemblem auf einem anderen wirken, als ob sie die mehrheitlich kurdische Bevölkerung daran erinnern sollen, in welchem Staat sie hier leben. Man möchte denken, dass man sich an einem Ende der Welt befindet und doch bin ich verwundert, wie offen und liberal das Leben hier zu geht.

Die Gegend gilt als Hochburg der kurdischen Arbeiterbewegung für die die angrenzenden Berge, aber auch der nahe Nordirak seit jeher Rückzugsort waren. Sogar meine an sich offenen, metropolitischen Freunde aus Izmir und Istanbul zeigen sich besorgt über mein Reiseziel. Über Couchsurfing bin ich bei Hividar und ihrer Schwester Hasibe zu Gast, die dafür sorgen, dass ich einen großartigen Aufenthalt habe. Sie organisieren mir eine Besteigung des Cilo Dağı, des dritthöchsten Berges der Türkei. Nachts schlafe ich schlecht und mache mir Gedanken, ob ich fit genug bin und meine Ausrüstung denn auch ausreicht. Als ich am nächsten Morgen völlig übermüdet zum Treffpunkt komme und unter meinen „Mitstreitern“ welche in Crocs, Vans, Schlaghosen und Jeansjacken entdecke, zerstreuen sich meine Sorgen schnell.

Stadtmenschen..

Berge erscheinen mir immer wieder wie eine Ansichtskarte ohne Tiefe, bis man sich schließlich auf sie zubewegt und in ihre ganz eigene Welt eindringt. Der Ausflug hat eher Picknick-Atmosphäre. Die Busse bringen uns in ein Hochtal in das wir ein wenig wandern und natürlich besteigen wir den schroffen Gipfel nicht. Man kommt eher hier hoch, um zu picknicken, Tee zu trinken und tatsächlich auch Halay, den traditionell kurdischen Tanz zu tanzen. Zwei der türkischen Straßenpanzer und acht Soldaten sorgen währenddessen für unsere Sicherheit.

Meine Freunde Nuri und Eyüp.

Hividar gehört zu den beeindruckenden Menschen, die keinerlei Vorbehalte gegenüber „Fremden“ hat und so lädt sie mich und einen ihrer Arbeitskollegen ein, ihre Familie in einem Dorf nahe der iranischen Grenze zu besuchen. Das Dorfleben erscheint mir unglaublich idyllisch: Jetzt im Juni suchen sich unzählige kleine Bergbäche mit Schmelzwasser ihren Weg in das Hochplateau von Yükselkova und versorgen die Weiden und Gärten der Menschen mit dem Reichtum des Wassers.

Hevidars Familie.
Die Frauen im Dorf arbeiten besonders hart und viel. Hevidar und ihre Mutter.

Alles liegt in einem üppigen Grün dar, ein jeder bewirtet einen Garten und die gepressten Kuhfladen liegen ordentlich aufgestapelt an den Mauern, um sie bis zum Winter zu trocknen. Auf dieser Höhe ist Holz etwas Kostbares und so nutzt man sie als Brennstoff. Die Menschen hier besitzen viele Talente. So bauen sie mit der Hilfe ihrer Familie ihre Häuser selbst, backen ihr eigenes Brot und machen in aufwendiger Handarbeit ihren eigenen Käse. Dies sind nur einige von vielen, aber bereits sie erscheinen mir wertvoller, als ein guter Umgang mit Excell-Tabellen oder das Know-How, wie man einen besonders schneidigen Instagram-Post verfasst. Es ist eine Kultur in der das Kollektiv zählt. Die Familie, das Dorf, die Ethnie. Es verlangt mir Respekt ab zu erkennen, welchen weiten Weg Hividar von ihrer Kindheit in diesem Milieu zu ihrem eigenständigen Leben als Englischlehrerin in der Kleinstadt gekommen ist.

Hividars Vater. Wenn man nebeneinander „arbeitet“, braucht man nicht viele Worte.

Es ist das Wochenende und wir sind mitten in der Heiratssaison. Die basslastige, repetitive Musik zu der die Kurden ihren Halay tanzen, erschallt in Hakkâri aus allen Himmelsrichtungen und vermischt sich zu einer schrecklichen Kakophonie. Ich zeige mich deutsch und empört ob dieser Lärmbelästigung, aber Hividar und ihre Schwester winken ab. Sie mögen diesen lauten Aspekt ihrer Kultur auch nicht, aber im Sommer sei dies eben Normalität. Schöner ist es da das Verhältnis der Menschen hier zur Musik im Leisen, Spontanen zu erfahren. Als wir abends durch die fast menschenleeren Straßen Hakkâris gehen, ist vor uns eine Gruppe von vier jungen Männern. Alle untereinander eingehakt, aber nicht betrunken, singen sie wunderschöne türkische Lieder. Eine Gruppe von Frauen, die uns entgegen kommt, stimmt für ein paar Strophen ein, solange sie in Hörweite sind. Kein Gegröle, kein Donaulied, kein „atemlos durch die Nacht.“

Der Abschied von meinen Freunden fällt nach fünf Tagen schwer, aber die anspruchsvolle Strecke lässt wenig Raum zum Grübeln. Wieder einmal habe ich den Fehler gemacht und meine Streckenplanung nicht mit den Ortskundigen besprochen. Auf einer Schotterstraße arbeite ich mich den halben Tag langsam die Bergkette hinauf. Immer wieder schrecke ich auf, wenn ich ein Grollen und Brodeln vor mir vernehme. Erst wenn ich weiterfahre und schließlich in den Bergwiesen die schäumende, silberne Krone der Gebirgsbäche erspähe, die sich in tiefen Furchen in das Land gegraben haben, verwandelt sich das Grollen zu einem hellen Rauschen.

Obwohl ich mich bald auf 3000 Höhenmetern befinde, erscheint die Natur hier oben opulent. Riesige Schafswolken, die nur einen Steinwurf entfernt zu sein scheinen, ziehen gemächlich über mich hinweg, werfen dabei aber bedrohliche Schatten auf das Terrain. Es herrscht ein enormer Farbenreichtum und überall tun sich Kontraste auf: Sogar, wenn das strahlende Weiß der Wolken, über dem schmutzigen Weiß der letzten verbliebenen Schneekappen zu liegen scheint. Nach drei Stunden kommt mir das erste Mal ein Auto entgegen, das anhält, um mir mitzuteilen, dass die „Straße“ nach Van geschlossen sei. Ich bin bockig. So schlimm kann es schon nicht werden.

Wie bei jeder Dummheit, in die man sich verrennt und von der einem abgeraten wurde, fragt man sich unweigerlich, ob man den Punkt bereits überschritten hat, an dem man noch hätte umkehren können. Nach dem Berggrat verläuft der Weg an der Nordseite des Berghanges entlang. Auch Mitte Juni sind die Schneefelder noch nicht ganz abgeschmolzen, teilweise überziehen sie den gesamten schmalen Weg bis zum Abhang. Wenn keine Schneefelder das Weiterkommen erschweren, dann ist die Strecke entweder unglaublich matschig oder von Steinschlag und Erdrutschen in Mitleidenschaft gezogen. Ich mache drei Kreuze, als ich schmutzig und erschöpft die letzte Gerölllawine hinter mich gebracht habe.

Für einen weiteren Aufstieg fehlt mir die Kraft und so baue ich mein Zelt früh am Abend in diesem einsamen Tal auf. Abgesehen von der Schotterstraße gibt es weit und breit keinen Spuren von Zivilisation. Ich bin hundemüde, aber der Gedanke an die Bärenspur, die ich vor nicht mal einer Stunde im Schlamm gesehen habe, nötigt mich zu ein paar extra Vorsichtsmaßnahmen und verschafft mir letztlich auch einen unruhigen Schlaf. Wenigstens kann ich durch das häufige Aufwachen die Milchstraße bewundern, die an diesem Ort besonders hell leuchtet.

Selten bin ich an einem schöneren Platz aufgestanden. Ich schäme mich fast, ein paar Quadratmeter der Bergwiese niedergedrückt zu haben. Nachdem ich mich in einem eiskalten Bergbach gewaschen und mein Wasser aufgefüllt habe, mache ich mich hellwach, mit ein wenig Wehmut, aber auch mit kindlicher Neugierde daran, den nächsten Bergkamm zu erklimmen.

Der Zenit ist überwunden – endlich scheint es bergab zu gehen. Auf dem Hochplateau herrscht Leben. Ein reitender Hirte überholt mich im Galopp, gefolgt von Mutter und Fohlen. Immer häufige sehe ich nun die ärmlichen Zelte der Schäfer und ihre riesigen Herden, die wegen des guten Futters den langen Aufstieg in Kauf nehmen. Nach weiteren zwei Stunden des Abstieges komme ich in das erste Dorf. Viele der Gebäude sind eingestürzt, die Zeit hat den Lehmbauten ihre Konturen gestohlen, zerschlissene Wäsche hängt auf einem Maschendrahtzaun, aber niemand außer ein paar Hühnern und ein paar finster ausschauenden Hundewelpen ist zugegen.

Nachdem ich um die tausenden von Schafen über mir weiß, sollte ich nicht mehr aus den Bergbächen trinken und inzwischen macht mir der Durst zu schaffen. Als ich schon ziemlich entkräftet auf einer steilen Abfahrt bin, erschrecken mich sechs große Herdenschutzhunde und bringen mich fast zum Fall. Sofort sind zwei der Schäfer zur Stelle, gebieten ihren Biestern Einhalt und laden mich zu ihrem Picknick ein. Ich nehme gerne an, denn ich ahnte nicht, wie abgeschieden die Strecke sein würde und mein Proviant ist bereits aufgebraucht. Die Männer sind für insgesamt 4000 Schafe zuständig und werden vier Monate auf den Sommerweiden verbringen. Als ich mich erquickt an die Weiterfahrt mache und die riesige Herde überhole, erscheint sie mir wie eine gefallene Wolke, die sich langsam den Berg hinunterwälzt. Ich traue mich nur sie ganz vorsichtig zu durchfahren, denn ich habe Angst eine Massenpanik auszulösen, aber wahrscheinlich unterschätze ich sowohl den Charakter als auch die Trittfestigkeit der Schafe.

Überall sieht man auf den Feldern Steinmännchen. Während ich sie an viel belaufenen Wanderwegen eher kitschig finde, finde ich hier oben Gefallen an ihnen und stelle mir immer vor, wie ein gelangweilter Schäfer ohne Smartphone sich mit dem Errichten, dem Balancieren und dem Finden der perfekten Steine seine Zeit vertrieb. Am späten Nachmittag taucht endlich ein Dorf auf und ich komme nicht drum herum es anzusteuern. Ich fühle mich etwas unwohl, denn ich weiß, dass man mir nicht einfach nur meine Wasserflaschen auffüllen wird. Man wird mich einladen und ich werde die Gastfreundschaft annehmen. So hat das Kommende den faden Beigeschmack des Kalküls. Bei Rührei, Brot, Käse und Tee verbringe ich eine Stunde mit der kleinen Familie. Es fühlt sich nicht gut an, immer nur zu nehmen. Gegenden, in denen der Winter lang ist und die Menschen arm sind, bringen naturgemäß gute Geschichtenerzähler hervor. Seitdem es Smartphones gibt, lässt man die Bilder sprechen und so hoffe ich wenigstens, dass ihnen mit unserem Gruppenfoto eine Anekdote bleibt.

Der vierthöchste Berg der Türkei, der Süphan Dağı (4058 m) am Van See.
Auf der alten Kloserinsel mitten im Van See fühlt man sich wie an der Mittelmeerküste.

Von Van fahre ich Richtung nord-osten zum Berg Ararat. Riesige Wiesen stehen in voller Blüte. Auf den Feldern sind in der Hitze Männer mit langen Hosen, Hemden und mit ernsten Gesichtern dabei, ohne Maschinen Heu zu machen. Die Felder sind recht klein, aber es muss trotzdem ein erschöpfendes Tagewerk sein. Die Dörfer sind verschlafen schön. Pferde, Schafe, Hühner und Hunde streunen frei herum. Kinder spielen in den Gärten. Die Häuser sehen teils grotesk aus. Auf die guten alten Mauern aus Feldsteinen hat man in Erweiterungsbestreben grässliche Betonsteine aufgesetzt. Es ist ein Stilbruch und eine Bausünde, aber sie geschehen in einer Welt, die solche Begrifflichkeiten nicht kennt, sondern nur Knappheit und Notwendigkeit.

Ich habe in der Nähe eines Wasserfalls gecampt. Als ich morgens aufbrechen will, werde ich von dieser netten Familie zu einem zweiten Frühstück eingeladen.

An einer Siedlung entlang einer großen Straße kommen mir drei Jungen auf Fahrrädern entgegen. Normalerweise hat man zu den fahrradfahrenden Kindern einen besonders guten Draht, grüßt sich und manchmal begleiten sie einen ein Stück. Diese aber schauen grimmig. Einer von ihnen hat ein langes Küchenmesser in der Hand und und fordert: „Money, money, money“. Ich bin baff und habe nicht übel Lust ihm das Messer abzunehmen und am nächsten Verkehrsschild zu zerbrechen.

Über Stunden hinweg schaue ich sehnsüchtig in die Wolken, wo ich den höchsten Berg der Türkei vermute, aber er will sich noch nicht zeigen. Auf einer letzten großen Abfahrt erreiche ich 70 Stundenkilometer. Es ist Zeit mal wieder den Helm aufzusetzen. Seit nunmehr 18.000 Kilometern schleppe ich ihn durch die Gegend und setze ihn doch nicht auf, weil ich ihn irgendwie ungemütlich und irgendwie „peinlich“ finde. Es ist wohl bedenklich, dass ich immer noch das gleiche Verhältnis zum Helm habe, wie als Kind. Abseits der Straße liegen riesige Magmafelder, die von der vergangenen vulkanischen Aktivität zeugen. Irgendwann zeigt sich der Ararat endlich, aber ist doch wie sooft wolkenverhangen.

Das erste Mal zeigt sich der Berg Ararat, jedenfalls ein bisschen.
Drei Tage mache ich in einem Hostel bei Doğubeyazıt Pause. Es regnet viel, ich mach es mir gemütlich und werde nicht müde den Berg zu bestaunen, dessen Wolkenspiel ihn stets anders erscheinen lässt.
Am Fuße des Berges ist die Natur unwirtlich.

Die Aprikosenernte ist in vollem Gange. Das erste Mal seit zwei Monaten erwischt mich wieder ein kräftiger Landregen auf dem Fahrrad. Es ist warm genug, dass man ihn gut aushalten kann und kurz darauf wieder trocknet. Ein Autofahrer bittet mich anzuhalten und mit vereinten Kräften versuchen wir seinen platten Reifen mit meiner winzigen Pumpe aufzupumpen. Abends findet man in den bereits abgeernteten Aprikosengärten leicht einen guten Schlafplatz. Die Straße führt direkt am Aras, dem Grenzfluss zwischen Türkei und Armenien entlang, der sich tief in einer Schlucht daher schlängelt. In manchen Dörfern sieht man noch die schönen alten, armenischen Häuser. Sie werden meist nur noch als Stallung für die Tiere genutzt.

Endlich mal wieder andere Radfahrer: Kris ist von Südostasien auf dem Rückweg nach Polen.

Um einen Platten zu flicken suche ich mir in einer Stadt einen Ort mit Bank und Wasserhahn in einem Park. Leider sammelt sich innerhalb kürzester Zeit eine große Gruppe Kinder um mich, die sich als wahre Quälgeister herausstellen. Einen Schlauch zu flicken, während man durchgängig von ihnen angesprochen und angefasst wird, sie ihre Frechheit unter Beweis stellen, mich mal auf Englisch beleidigen, mir dann wieder ungewollte Komplimente geben, das ist nicht einfach. Sie nehmen alles von meiner Ausrüstung in die Hand, grabbeln an meinem Fahrrad herum und fragen immer wieder nach Geld. Zweierlei macht mich wahnsinnig: Dass sie in ihrer trolligen Art etwas kaputt machen könnten, wenn ein besonders Frecher beispielsweise zum zweiten Mal auf einen Bremshebel tritt und dass sich mein bisschen Eigentum hier plötzlich als so eine Belastung herausstellt. Gelegentlich kommt ein Erwachsener vorbei, versucht sie von mir loszueisen, aber hat nur wenig Erfolg.

Die Türkei ist so angenehm zu bereisen, weil Respekt, „Anstand“ und Gastfreundschaft so fest in der Kultur verankert sind. In einer Anwandlung von Hilflosigkeit schreibe ich einen möchtegernschlauen Text ins Übersetzungsprogramm, appelliere an ihr „Mannsein“, spreche vom Gastrecht als Teil des islamischen Ethos und streue hier und dort noch das Wort „haram“ ein. Man liest, nickt anerkennend und bezeichnet mich als „Ehrenmann“, aber es bringt doch wenig. Ich bin fix und fertig als ich endlich weiterfahren kann und will erst einmal für ein paar Stunden nichts von den Menschen wissen.

Ich besuche die Ruinen der alten, armenischen Stadt „Ani“, die vor tausend Jahren von den Seldschuken eingenommen wurde. Sie liegt auf türkischen Boden, doch so nah an der Grenze, dass man das Rot, Blau und Gelb der armenischen Flaggen auf den gegenüberliegenden Hügeln erkennen kann. Man neigt leicht dazu, all den Vandalismus auf den alten Mauern als eine Geringschätzung der armenischen Kultur zu betrachten.
Die Burg der Stadt Kars. Nun an Sommertagen kann man es hier gut aushalten, doch die meiste Zeit des Jahres ist sie Stadt fest in der Hand der Kälte.

Die letzten Wochen habe ich es mir abgewöhnt auf die Wettervorhersage zu schauen. Es schien nur darum zu gehen, wie heiß es wird. Jetzt habe ich die Zeche zu zahlen. Weil ich bei einem letzten türkischen Frühstück noch zu lange mit Kris rumgelungert habe, mache ich mich erst am Nachmittag auf den Weg. Kaum auf 2000 Metern angekommen, kommt mir schon eine drohende Wolkenwand näher, die sich auf dem ganzen Horizont ausstreckt. Was erst beeindruckend und schön aussieht, wird erst durch Wind, wenig später durch Regen und dann 10-Cent-große Hagelkörner sehr real. Der Hagel tut höllisch weh. Weit und breit gibt es keinen Unterschlupf und so bleibt nichts anderes übrig, als weiterzufahren. Nach einer halben Stunde lässt das Unwetter nach und die verbliebenen zwei Stunden vor Sonnenuntergang reichen gerade, um noch einmal anzutrocknen.

Was erst nach einem schönen Wolkenspiel aussieht, entpuppt sich wenig später als neue Gewitterfront. Diesmal sind die Hagelkörner kleiner, aber treffen mich dafür wie tausend kleine Nadeln. Mitten im Sturm bemerke ich einen Platten und muss mein Lager an der Autobahn aufbauen. Die meisten erreichbaren Stellen stehen unter Wasser. Zum Essen bin ich zu durchgefroren und verkrieche mich schnell ins Zelt. Immer wieder halten Autos an der Straße neben mir und ich luge paranoid aus meinem Zelt und lausche, ob sie jemand an meinem Fahrrad zu schaffen macht. In meiner Paranoia bin ich festentschlossen nur ein paar Stunden die Augen zuzumachen, nicht zu schlafen, sondern mein Fahrrad fest „im Blick“ zu behalten. Nach kurzer Zeit falle ich doch bis zum nächsten Morgen in einen tiefen, traumlaufen Schlaf. Nichts saugt einem verlässlicher die Energie aus, als zu frieren. Am nächsten Tag muss ich darüber schmunzeln, wie kauzig einen die Schwäche hat werden lassen.

Allerdings wird der folgende Tag keinen Deut besser. Das Frühstück fällt aus, weil der Benzinkocher spinn. Nach dem Flicken des Schlauches machen mich ungewohnte Geräusche und spürbares Knirschen der Kette wahnsinnig. Erst beim dritten Versuch und am Nachmittag löse ich das Problem. Endlich kann ich mich an die Weiterfahrt machen, bemerke aber kurz darauf, dass einer meiner Schuhe von meinem Seesack gefallen ist. Es muss auf den letzten zwei Kilometern passiert sein. Ich suche alles penibel ab, aber der Schuh bleibt verschwunden. In der Stadt gibt es besonders viele Straßenhunde und Welpen, die meinem Blick ausweichen und sich auffällig gebärden. Sicher hat einer von ihnen den Schuh verschleppt. Den Heimweg nach Deutschland also in Sandalen. Zu guter Letzt geht abends noch mein Benzinkocher kaputt und ich muss eine weitere Nacht hungrig ins Zelt. Das alles lässt mich auch den schmerzhaften und mysteriösen Verlust meiner Kamera im Irak denken. Manche Tage sind einfach zum Vergessen. Ich versuche mir einzureden, dass meine inzwischen schon merklich abgespeckte Ausrüstung im Kaukasus von Vorteil sind wird.

Es ist der letzte Tag in der Türkei. Endlich gibt es wieder Tannenwälder auf den auslaufenden Hängen der Berge. Ein letzter großer Anstieg trennt mich von Georgien. Die iranischen LKWs überholen mich im Schritttempo. Einen von ihnen wurde der steile Anstieg zum Verhängnis und er rutschte rückwärts den Hang hinunter. Fachsimpelnd stehen vier an der „Unfallstelle“. In einem der letzten türkischen Dörfer sehe ich eine Gruppe von festlich geschmückten Menschen zusammenstehen. Ein Mann ist über ein Schaf gebeugt, dessen Hinterläufe noch zucken. Es ist der Beginn der Opferfestes.

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Christopher Rerrer

Ein Gedanke zu ”Türkei – Wildes Ostanatolien

  1. Hallo Christopher,
    es ist wirklich wahnsinnig interessant von deinen Erlebnissen zu lesen.
    Hattest du noch Ärger bei den Kindern mit dem Küchenmesser oder konntest du einfach „schnell wegradeln“? 😀

    Liebe Grüße aus Hannover,
    Sören

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