Als ich nach 20-stündiger Fährfahrt in Civitavecchia, dem „Stadthafen” Roms ankomme, habe ich zitternde Beine. Zum einen, weil ich nicht für das Leben auf See gemacht bin, zum anderen, weil die Überprüfung der Covid-relevanten Dokumente in Barcelona durch den Fährbetreiber äußerst streng war.
Die deswegen befürchteten Kontrollen finden im Zielhafen allerdings nicht statt. Nur zwei Wagen der “Guardia di Finanzia” stehen im Hafen, die nur einzelne Wagen aus der Masse herausziehen. Mein “Transit nach Deutschland” gilt also. Eigentlich wollte ich mich direkt auf den Weg Richtung Toskana machen, schlage aber, nachdem ich eine sehr spontane Zusage über Couchsurfing bekommen habe, doch den Weg nach Rom ein.
Meine ersten Kilometer in der Abenddämmerung Italiens vermitteln mir einen Vorgeschmack davon, in welcher Intensität ich die kommenden Wochen Furcht beim Radfahren empfinden werde. Gleich in zwei aufeinanderfolgenden Kreisverkehren werde ich fast vom Fahrrad geholt, weil man meine Handzeichen ignoriert. Nach einigen Kilometern finde ich in der Dunkelheit ein wenig außerhalb der heruntergekommenen Vororte der vom Handel geprägten Stadt endlich einen Zeltplatz. Mit weit entferntem, vereinzeltem Glockenklang im Ohr falle ich in seligen Schlaf und wache viele Stunden später mit dem gleichen, jetzt intensiveren Geräusch auf. Die nicht eingezäunte an einem Wald gelegene Wiese ist eine riesige Weide, die jetzt im Frühling satt in Blüte steht. Im schönsten, morgendlichen Sonnenlicht kann ich aus meinem Zelt heraus verschlafen beobachten, wie majestätische weiße Kühe – die mit ihrem besonderen Hornschwung eher Wasserbüffeln ähneln – gemächlich an mir vorbeiziehen, bis der Glockenklang schließlich in weiter Ferne verklingt.

Die Frische und Lebendigkeit des Waldes und der Wiesen, erwecken in mir ein leichtes Heimweh an den Frühling in Deutschland, sind sie doch eine schöne Abwechslung nach dem recht kargen Spanien.
Bis kurz vor Beginn der „ewigen Stadt“ mutet die Region Latium sehr provinziell an. Es gibt viele alte Gehöfte, alte Weinberge und sogar Aquädukte, die durch die Einverleibung der Stadt bisher verschont geblieben sind. Riesige Betonbauten und überall in den Straßen verstreuter Müll heißen mich aber schließlich in Rom willkommen. Zum historischen Zentrum hin weichen die „Plattenbauten“ kleinen Palästen und prachtvollen Bürgerhäusern und auch die Straßen werden langsam sauberer. Es ist Frühling, aber Rom trägt seit jeher die Farben des Herbstes. Neben mir ist auf dem Petersplatz nur eine kleine Schar versammelt: ein halbes Dutzend in ihr Telefon vertiefte Polizisten, zwei in einer Olympiade der Selbstdarstellung gegeneinander antretende Instagram-Pärchen, zwei Touristen aus Swasiland und zwei verrückte, durch Klagegesänge Schwermut verbreitende Christen.

Mein Couchsurfing-Gastgeber in Rom heißt Fabio und ist ein unkonventioneller, gebildeter junger Mann, der interessanterweise vor kurzem seinen ersten Roman veröffentlicht hat. Wir verstehen uns gut, trinken ein paar Gläschen und er deklassiert mich beim Schach. Nachdem wir die Flasche geleert haben und wir inzwischen schon angeschickert sind, frage ich ihn, ob er denn nicht noch eine Flasche für besondere Anlässe habe. Die habe er schon, antwortet er mit einem Augenzwinkern, doch hebe er die für den Tag von Berlusconis Beerdigung auf. Dieser Sittenstrolch in Nadelstreifen kommt bei der jungen Generation nicht gut weg, sehen doch viele in ihm zu Recht das Sinnbild einer erodierten Moral im politischen System und die Wurzel vielen Übels. O tempora, o mores!
Mein „Sightseeing” mit dem Fahrrad gleicht am nächsten Tag im römischen Straßenverkehr einem Spießrutenlauf. Erworbenes Wissen um den deutschen Straßenverkehr ist hier nicht anwendbar. Zuhause weiß ich, dass ich mich vor strukturell in Eile befindenden Pflegekräften, Rentnern in schlafanzuggrauen Mercedes mit Klopapier-Deko auf der Hutablage, Dorfschönheiten in Mini-Coopern mit “sponsored by Papa” Aufklebern und Halbstarken in tiefergelegten Wagen in Acht nehmen muss. Hier in Italien dagegen lauert die Gefahr jedoch überall. Egal, ob Familienvater im Fiat Multipla, Großmutter im Fiat Panda oder den lokalen “tamarre” (italienische Bezeichnung für ignorante, auf Mode bedachte junge Menschen, die man hier zuhauf trifft) in ihren stets herausgeputzten Volkswagen. Jeder fährt hier, als ob der Leibhaftige hinter ihm her wäre und aus gutem Grunde ist Rom die Stadt mit den meisten Verkehrstoten Europas. Auch ohne Verkehr würde der Zustand der Straßen ausreichend Unfallgefahr bieten.
Der Tiber durchzieht die Stadt von Nord nach Süd und ich nutze ihn, um am Wahnsinn vorbei zur Vatikanstadt zu gelangen. Nachdem ich den Petersplatz gestern schon bewundert habe, mache ich mich direkt auf, um den Petersdom zu besuchen. Von den unzähligen Sicherheitsschleusen ist heute nur eine geöffnet. Auch wenn ich nicht glauben kann, ist der Eintritt in den Dom doch überwältigend. Er stellt jedes christliche Gotteshaus, das ich bisher besucht habe, durch seine schiere Größe und den Prunk in den Schatten. Die Besucher lassen sich an einer Hand abzählen, aber auf uns kommt noch einmal die dreifache Anzahl an Sicherheitsleuten. Sie sind äußerst stilvoll gekleidet, aber reden im saloppen Ton miteinander oder starren auf ihre Handys. Ganz gleich ob Bundestag oder Petersdom. Diese vermeintlich hohen und würdevollen Häuser fordern eine Demut von ihrem Klientel ein, die von jenen, die unter ihrem Banner stehen, nicht selten mit Füßen getreten wird. Immerhin bin ich in der Krypta der Päpste ganz allein und frei von diesen Irritationen.
Es ist ein langer beschwerlicher Weg, den ich aus der Stadt heraus nach Norden antrete. An diesem Samstag verlagert sich das Verkehrsaufkommen durch die Tagestouristen bis weit in die Region Latium herein, aber schließlich umfängt mich das stille Grün. Nördlich von Rom gibt es riesige Haselnussbaum-Plantagen, die zu dieser Jahreszeit bereits in der ihnen so eigenen Blätterpracht stehen, die gleichzeitig frisch und zart, aber auch so wunderlich welk ausschaut. Ich folge dem „Francigenia”, einem der drei großen italienischen Pilgerwege, dessen Hauptachse im Mittelalter vom englischen Canterbury bis nach Rom geführt hat. Manchmal führt er sogar über die ursprünglichen, antiken, grob behauenen Wege, die zwar aus touristischer Sicht eine Freude sind, aber fürs Fahrradfahren denkbar ungeeignet. Neben schmucken Kleinstädten führt der Weg auch immer wieder an alten Siedlungen der Etrusker vorbei, an denen – zu meiner Freude und meinem Vorteil – noch immer die Brunnen und Wasseradern zu finden sind, die damals für die Besiedlung wohl ausschlaggebend waren.

An einer alten Mühle an einem Wasserfall suche ich mir bereits im Dunkeln einen Schlafplatz und nehme mir vor zeitig aufzustehen, um am Sonntag vor dem Eintreffen der Tagestouristen schon wieder unterwegs zu sein, doch ich habe die Disziplin der Römer unterschätzt. Während ich um 8 Uhr früh verschlafen mein Porridge löffele, trifft das erste Paar ein. Während man mir anfangs noch die Milde gegenüber einem gerade Aufgestandenen gewährt und den Wasserfall fotografiert, wird schließlich das Gespräch gesucht und ich lande im Sucher. Es sind merkwürdige Zeiten der Pandemie, wenn der Reisende selbst zur Attraktion wird.

An der Grenze zwischen Latium und der Toskana treffe ich auf Adrien und Jacqueline. Die beiden wollen auch Richtung Osten, nehmen aber die abkürzende Fährfahrt nach Albanien, da sie als Mexikanerin jedes Jahr in Spanien vorstellig werden muss, um ihr Visum nicht zu verlieren und auch die Karriere der beiden gestattet keine „unbegrenzten“ Ferien. Ich merke einmal mehr, was es für ein Reichtum ist, viel Zeit zu haben. Von Roger Willemsen habe ich letztens einen Satz gehört, der mir gut gefallen hat. „Alle verlieren gerade ihre Jugend. Die alten vergessen sie und die jungen verkaufen sie.” Wir tauschen Tipps für die vor uns liegende Strecke aus und trennen uns nach einem kleinen Plausch und dem obligatorischen Foto wieder.

An diesem Apriltag scheint es, als ob die Toskana und Skandinavien mit der gleichen Farbpalette gemalt worden wären. Die Wolken sind ständig in Bewegung, hängen tief und immer wieder drohen dunkle Gewitterwolken mit kalten Schauern. Nur um den Monte Amiata, der mit seinen über 1700 m die höchste Erhebung dieser Gegend ist, scheinen sie im Stillstand und verdecken den Gipfel den ganzen Tag. Der Wind ist grausam, wenn er mir entgegenbläst, aber schön, wenn er am Horizont die dunklen Wolken vorantreibt und der am grauen Himmel dunkel hervortretende, seidenfingerige Regen den Anschein erweckt, als ob die Wolken sich mit seiner Hilfe, gegen den Wind aufbäumend an den rauen Boden klammern würden. Das lehmige Braun der gefurchten Ackerschollen, das im fahlen Licht dieses Tages zu einem Grau wird, das viele Buschwerk, das sich erst beim Näherkommen als vom Wind drangsalierte Bäume zu erkennen gibt, das breite ausgewaschene Flussbett mit den großen rund geschliffenen Steinen und die hier und dort vor sich hin rostenden Einsiedeleien. All dieses riecht und schmeckt an diesem Tag nach einem anderen Breitengrad.
In einer heißen Quelle in den Bergen, die mir von meinen neuen Bekanntschaften empfohlen wurde, finde ich wohlige Wärme, Entspannung und Bestätigung meiner Einbildung, in Skandinavien zu sein.

Vor dem Sonnenuntergang spute ich mich, um dieser nordischen Bergwelt zu entkommen. Irgendwann passiert es dann doch, dass das Abendlicht zwischen dem hügeligen Horizont und den Wolken hindurch bricht und meinen Blick schärft. Nun nehme ich auch die Zypressen wahr, die hier und dort zu alten, steinernen Anwesen führen und dem Beobachter schon seit Jahrhunderten wie zum Gruße Spalier stehen. Und so verbringt auch mein Geist doch noch seinen ersten Abend auf der Reise in der Toskana.
Die nächsten Tage komme ich nicht so richtig voran. Es gibt immer wieder langanhaltende Regenschauer, die ich lieber unter Brücken und in Hütten ausharre, schließlich bin ich nicht in Eile. Übers Internet habe ich mir in der Nähe von Roccastrada ein Gebiet zum Bouldern herausgesucht. Der Weg dahin ist erstaunlich fordernd. Mehrere langgezogene Anstiege über 400 Meter gilt es zu bezwingen. Wenn ich an die Toskana denke, dann bisher wohl immer an das landwirtschaftlich genutzte, hügelige Terrain südlich der apuanischen Alpen mit all ihren Metropolen und nicht an dieses wilde, bergige Waldmeer. Mitte April gleicht jeder Aufstieg einer Reise in eine andere Jahreszeit. Während im Tal der Frühling in seiner ganzen Üppigkeit vorherrscht, wirkt die Natur oben auf dem Bergen noch ungewohnt unbelebt. Ich finde inmitten der Kletterfelsen einen Platz für das Zelt und genieße hier oben eine fast umfassende Stille. Am nächsten Tag zeigt sich, dass die Routen entweder zu schwer für mich sind oder der Zugang von einem habgierigen Grundbesitzer versperrt ist. Relativ kraftlos mache ich mich nach einer Wanderung auf, um in die Zivilisation zurückzukehren.
Der Hunger treibt mich, allerdings wusste ich nicht, dass in der italienischen Provinz die Wirtschaft jeden Tag für eine üppig bemessene Mittagspause lahmgelegt wird. Der nächste Supermarkt ist gut 40 Kilometer entfernt, aber mir bleibt nichts anderes übrig, als mich Tantalusqualen leidend auf den Weg zu machen. Jeder, der beim Wandern oder Radfahren seinen Hunger nicht rechtzeitig in Schach gehalten hat, weiß was für ein Wechselbad der Gefühle drohen kann. Ich finde die Welt verdorben und schlecht eingerichtet und strampele lustlos und mürrisch vor mich hin. Die Straßen sind in dieser Gegend und zu dieser Uhrzeit eigentlich vollkommen leer, aber eines der selten auftauchenden Autos hält an. Eine junge Frau mit Kind fragt mich, ob sie mir helfen könne. Sie und ihr Freund haben vor kurzem eine ähnliche Tour gemacht. Ohne meinem Leiden einen Namen zu geben, werde ich zum Mittagessen eingeladen und sitze schon eine halbe Stunde später in einer herzlichen Familienrunde.

Marta und Andrea sind für gut ein halbes Jahr durch Kanada geradelt, haben sich vor Bären und Schlangen gefürchtet, ein Katzenbaby gefunden, das ihr neuer Reisegefährte wurde und nach der bestandenen Härteprobe entschieden, dass sie ein Kind zusammen möchten. So wurde die kleine Aria die Erfüllung ihrer Liebe. Hemdsärmelig wie ich bin, will ich zeigen, dass ich um die Bedeutung des Namens weiß, und verweise auf die Tankstellen des Landes, an denen ich diese Vokabel ganz praktisch erlernt hatte. Das Leben im Wald lässt einen auf dem Parkett des Sozialen zu einem schwerfälligen Bären werden. So kommt es nun, dass die beiden mit ihrem liebreizenden Töchterchen, Andreas Bruder Stephano, ihrer herzlichen Großmutter Marina und ihrem Katzen-Findelkind Owen – der inzwischen auch ein häusliches Leben führt – in dem alten Familienhaus zusammenleben. Ich bin unglaublich gerührt von dieser unerwarteten Großzügigkeit und Wärme, mache mich zum Nachmittag mit vollem Bauch, großem Lunchpaket und bester Laune auf die Weiterreise. An solchen Tagen fällt es mir leicht das Rationale abzulegen und in Dimensionen des Schicksalhaften zu denken.
Ich fahre bis in die Dämmerung zu einem Geheimtipp der Region: ein paar weiteren thermalen Quellen in dieser vulkanisch so aktiven Gegend Italiens. In der ersten, in einen überdachten Pool laufenden Quelle in unmittelbarer Umgebung eines Dorfes, fühle ich mich zwar wie ein waschechter Patrizier, mache mich aber doch auf den Weg, um einen besseren Schlafplatz zu finden. Wieder einmal waren die Etrusker auf einer guten Fährte und so kann ich just neben einer Ausgrabungsstätte und einer wirklich heißen Thermalquelle, mein Zelt aufschlagen und den Morgen mit einem heißen Bad beginnen.

Die folgenden Tage verbringe ich mit Tommy und Melina. Eine Freundin aus Deutschland hat den Kontakt hergestellt und auch wenn die beiden mich nicht kennen, so werde ich doch mit offenen Armen empfangen. Tommys Eltern sind vor mehr als 35 Jahren aus dem kühlen Schottland in dieses mediterrane Paradies gezogen und sein Vater hat ganz im Sinne eines italienischen Märchens eine Wandlung vom Anwalt zum Spielzeugmacher durchlaufen. Nach fast anderthalb Jahren Fernbeziehung sind die beiden nun endlich wieder zusammen, aber es zieht sie fort, um in Portugal ein Stück Land zu kaufen und mit Freunden etwas gemeinsam zu erschaffen. Ich gebe mein Wort, dass ich mich zu gegebener Zeit mit einem Arbeitseinsatz auf ihrem Landstück revanchieren werde. Es ist eine bestimmte Art von Gastfreundschaft, die einem von denjenigen Menschen bedingungslos entgegengebracht wird, die um die Widrigkeiten des Lebens unterwegs Bescheid wissen.

Von Sassetto aus fahre ich an Pisa vorbei nach Massa Carrara, Weltstätte des Anarchismus, der Marmorproduktion und der Heimatort meines Kumpels Andrea. Er ist ein talentierter junger Mann, den ich in Valencia in einem Hostel kennengelernt und schnell liebgewonnen habe. Es liegt im Wesen von Hostels, dass auf das Kennenlernen auch bald wieder ein Abschiednehmen folgt. So trennten sich unsere Wege, aber einen Monat später passierte es nun, dass wir in Barcelona in einem anderen Hostel zufällig wieder aufeinandergetroffen sind und er nutzte die Gelegenheit, um mich zu seiner Familie einzuladen und aller guten Dinge drei sein zu lassen. Ich bin sehr dankbar für die Gastfreundschaft und die weiteren Eindrücke des italienischen Lebens abseits der Straße.


Von Massa Carrara aus geht es im Regen entlang der Apuanischen Alpen Richtung Lucca. Das Wetter ist sehr wechselhaft und so suche ich mir eine Stelle zum Überqueren des Gebirgszuges, die nicht auf 1500 m Höhe verläuft. Ich radele bis nach Pistoia weiter und glaube dort eine gute Strecke durch die Berge Richtung Bologna gefunden zu haben. Wie es der Zufall will, reißt an diesem Tag einer meiner in die Jahre gekommenen Schuhe vom Seesack, während ich das vorübergehend gute Wetter in Birkenstock-Sandalen genieße. Ich zahle den Preis für meinen Konsumverzicht oder auch einfach nur meine Knauserigkeit und mache mich im wiedererstarkenden Regen und mit schmerzender Achillessehne in meinen Latschen zur Überquerung der Berge auf. Der Abstieg am nächsten Tag zieht sich über fast 70 Kilometer bis kurz vor Bologna hin und ist eine große Freude, führt er mich doch zunächst durch recht wilde Bergwelten und später durch ein an das Allgäu erinnerndes Voralpen-Idyll.


Auch wenn ich bereits durchs Hörensagen Vorfreude auf Bologna hegte, will es der Zufall, dass ich ausgerechnet zum Wochenende ankomme. Die Stadt ist ungewohnter Weise bis zum Bersten gefüllt, aber mit dem Rad schlängele ich mich träge durch die Menschenmenge und schaffe es ohne viel Aufwand doch einen guten Überblick zu bekommen. Vor der Kathedrale hat sich eine große Menschenmenge versammelt. Mit dem Duktus von Radio-Morgenshow-Moderatoren halten zwei Blender einen Vortrag zu einer reißerischen Präsentation. Besonderen Gefallen scheinen sie daran zu finden die Sätze des anderen zu vervollständigen und sich gegenseitig zu applaudieren, wann immer sie wohl besonders gelungene Spitzen gegen das Establishment zum Besten gaben. Während sie reden wird ein selbstgefilmtes Video von einer jungen Frau im Krankenhaus gezeigt, die sich irgendwelche Schläuche selbst zieht und einen vermeintlichen Komparsenvertrag vorzeigt, den sie soeben unterschrieben habe. TikTok-Videos als Zukunft des Investigativ-Journalismus? Dem Mob entfährt ein kollektives Raunen. Mache ich mir den richtigen Reim auf das Gesehene? Ich zögere, ob ich mich meines Eindrucks bei jemanden im Gespräch versichern sollte, aber die geballten Fäuste, angespannte Nackenpartien, die wütenden Fratzen und die vor Zorn funkelnden Schweinsaugen um mich herum, lassen mich kopfschüttelnd mit meinem Fahrrad in ruhige Gassen verschwinden. Ignoranz ist eine Sprache, die keine Übersetzung benötigt.
Von Ferrara aus kann ich schließlich mit dem mächtigen Po, dem mit 652 Kilometern längsten Fluss Italiens zu meiner Linken, weiter gen Osten in Richtung Venedig fahren. Im Baumarkt hat man mir scheinbar etwas anderes als Waschbenzin verkauft. Der Kocher funktioniert trotz stundenlangen Herumwerkelns nicht mehr und so suche ich mir über warmshowers einen Schlafplatz, um den Kocher mit einem Nachtbad in Coca-Cola wieder sauber zu bekommen.
Riccardo ist Anfang 40, Feuerwehrmann, Rettungsschwimmer, Sportfanatiker und einer dieser Menschen, die eher für andere als für sich selbst zu leben scheinen. Er begrüßt mich mit dem Scherz, dass ich gerne länger bleiben kann, es gebe viel zu tun. Und so kommt es, dass ich statt der angedachten Tüftelaktion, für mehr als zwei Wochen bleibe. Riccardo lebt mit seiner Familie auf einem großen Stück Land in der Po-Ebene. Auf dem Grundstück ist tatsächlich viel zu tun und ich kann mich mit Holzhacken und der Ausbesserung des Hühnergeheges für die erhaltene Gastfreundschaft erkenntlich zeigen. Allerdings werde ich in meinem Willen etwas zu schaffen regelmäßig mit Häppchen, Wein und Bier aufgehalten. Es lebe die italienische Gastfreundschaft! Fast jeden Abend treffen sich Freunde zum gemeinsamen Grillen in einer ausrangierten Schubkarre und auf ein Gläschen Wein. In der überwiegenden Freizeit sind wir häufig am Strand, mal mit den Kayaks auf den umliegenden Kanälen, auf gemeinsamen Fahrradtouren oder in den italienischen Alpen.


Besonderen Gefallen finde ich an Riccardos Vater Mario. Der ehemalige Landarzt des Dorfes ist für seine Mitte 70 wahnsinnig gut in Form, läuft rum – wie man sich die in Anarchie lebenden Überlebenden einer Atomkatastrophe vorstellt – und werkelt und tüftelt auf seinem Boden, als ob er eine unsichtbare Bruderschaft mit den Amisch verspürt. Jeden Abend entschwindet der Mediziner mit seinen vier Ziegen für einige Stunden, um in den umliegenden Wäldern die Stille der Natur zu genießen. Durch unterschiedlichste Quellen hat er sich einen erstaunlich vielfältigen, aber unzusammenhängenden Wortschatz an deutschen Vokabeln zusammengeklaubt und so können wir uns mit Händen, Füßen und viel Lachen auch unterhalten.


Ich habe beim Reisen immer eine Art Obsession in die einfachsten Frisörläden zu gehen. Dadurch hatte ich schon tolle Erfahrungen, wie beispielsweise im Iran, als ich in einem kleinen Dorf bei den Quashqai-Nomaden den örtlichen Barbier aufgesucht habe, um meinen „german haircut” zu bekommen, der dort weniger nach Hitlerjugend als nach dem Privatdetektiv Magnum in der gleichnamigen Fernsehserie aus den 80er Jahren aussieht. Während der Friseur und ich anfangs alleine waren, versammelten sich zum Ende hin gut ein Dutzend Männer in dem kleinen Laden, um gemeinsam Tee zu trinken, ausgelassen zu sein und sich das für sie wohl besondere Spektakel anzuschauen. In den nicht selten nur wenige Quadratmeter großen Lädchen in Serbien gibt es oft einen Selbstgebrannten nach der Rasur und ich hege die Vermutung, dass – Geruch und Schmerzen nach zu urteilen – dieser auch als Aftershave verwendet wird.
Riccardo erzählt mir von solch einer örtlichen Attraktion und sieht es als seine Pflicht an, mir auch diesen Reichtum seiner Heimat nahezubringen. In einem kleinen, mit Kiefernholz vertäfelten Raum, mit vielen vergilbten Postern, der dunkle Erinnerungen an deutsche Kinderzimmer weckt, schneidet Iseo einem jeden, der um seinen zwielichtigen Salon weiß, für 3 Euro die Haare. Währenddessen laufen seine beiden „domestizierten” Hühner um einen herum und jeder Haarschnitt wird mit einem Ständchen beendet, bei dem er sich mit seiner Gitarre selbst begleitet. Das Ganze erfolgt wohl „schwarz“ und geht am Fiskus vorbei, wird aber augenscheinlich geduldet, weil er erkennbar auch sämtlichen Carabinieris der kleinen Stadt ihren berufstypischen Haarschnitt zu verpassen scheint. Die Show war es wert, auch wenn ich noch nie jemanden erlebt habe, der sich so wenig Mühe bei seiner Arbeit gibt. Noch Wochen später ärgere ich mich über einzelne längere Haarbüschel, die überall aus Nacken und Bart sprießen.

Eines Morgens werden wir von einem Nachbarn angefragt, ob wir ihm dabei helfen könnten, einen Holzspalter zu verladen. Die Arbeit mit einem reinen Aufwand von 5 Minuten, aber viel Fachsimpelei, wird uns mit Kuchen und einem ordentlichen Quantum Wein vergolten. Es ist zu diesem Zeitpunkt nicht einmal 10 Uhr und was in Deutschland den bitteren Beigeschmack des Alkoholismus hätte, schmeckt hier einfach nur nach „dolce vita”.
Ich will die Chance nutzen, um auch Venedig ohne den Massentourismus zu erleben, aber es erscheint, als ob diese Chance unwiederholbar verstrichen ist. In den engen Gassen der Stadt wird Deutsch in einer verschwenderischen Vielfalt von Mundarten gesprochen. Eine verhärmte Dame schimpft ihren gefügigen Gatten auf sächsisch aus, weil er sein “Schoko-Gelato” auf sein azurblaues Camp David Poloshirt gekleckert hat. Strenge, schwäbische Eltern ziehen ihren weinerlichen und erschöpften Nachwuchs entlang der Kanäle, während dieser lautstark maulend eine “Vesper” einfordert. Bajuwarische Rentner wandern mit leuchtenden Augen durch die Straßen und wann immer etwas ihren Blick für ein paar Sekunden bindet, wird diese Entdeckung mit einem “schee” quittiert. Eine Mutter will den – von den allgegenwärtigen Andenkenläden angestachelten – Konsumwahnsinn ihrer Kinder mit einer Anekdote aus ihrer ärmlichen Kindheit entgegenwirken, die sie in badischer Mundart, voller Pathos und im Plusquamperfekt zum Besten gibt. Sie sind wieder da.

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Zeit unterwegs: ~ 8 Monate
Strecke: 8050 Kilometer