Von Meer zu Meer: Von Istanbul nach Izmir

Mittlerweile ist es ein halbes Jahr her, dass ich das letzte Mal richtig mit dem Fahrrad unterwegs war. Nachdem die letzten Monate vom Arbeiten in Deutschland und Herumstreunern in Istanbul geprägt waren, werden die kommenden zwei Wochen ein Kontrastprogramm darstellen, was mich wieder wachrütteln und sowohl körperlich als auch mental auf das vorbereiten soll, was im Spätsommer mit der nächsten großen Etappe folgt.

Mit einer schnellen Fähre geht es von Istanbul nach Bandirma, einer kleinen Stadt am südlichen Marmarameer, um so die schrecklichen, endlos erscheinenden Vororte Istanbuls zu umgehen. Wie es der Zufall will, verpasse ich die Fähre gerade so nicht und lerne deshalb an Bord Claus kennen. Er ist ein vitaler Rentner mit dem richtigen Abenteuergeist, der einmal pro Jahr, wie er sagt, von seiner „Regierung“ für einen Monat frei bekommt und so schon an vielen Orten in Europa mit seinem Fahrrad unterwegs war. Wenn Menschen so sprechen, erinnert mich das an „Heimat“. Er hatte die letzten Wochen noch fast keine Radreisenden getroffen. Für mich war das Thema Radreisen das letzte halbe Jahr leider nicht sehr präsent und so freuen wir bei Mittagessen und Cay ein wenig zu schwätzen und uns über unsere Erfahrungen auszutauschen. Auch wenn er das Zigarettenrauchen vor einigen Jahren aufgegeben hat, ist er doch Genussraucher geblieben und trägt ein Packen guter Zigarren mit sich, um – egal ob am Zelt oder auf dem Balkon einer Unterkunft – den Abend gemütlich und genussvoll ausklingen zu lassen. Ich wäre froh, falls ich in diesem Alter mal halb so fit und lässig drauf sein sollte.

Unterwegs fällt mir erst auf, was ich alles beim raschen Aufbruch vergessen habe. Ohne Benzinkocher, Kochgeschirr, Kopflampe, Kopfhörer und genügend Akku bin ich zwar schlecht vorbereitet, aber wichtiger als alle Ausrüstung ist das unterwegs sein an sich. Irgendwie freue ich mich auch darauf, dass es etwas zäher werden wird, ganz so als ob man nun in den Tagen des Radfahrens die Verkrustungen loswerden muss, die das Leben in der Stadt so hat entstehen lassen. Nach der langen Pause und dem trägen Leben fällt das Radfahren sehr schwer, aber am Anfang meint es die Strecke noch gut mir. Durch frisches grünes Ackerland führt mich mein Weg durch kleine Dörfer, die einen riesigen Kontrast zu der 20 Millionenmetropole Istanbul darstellen, die doch nur eine Fährfahrt hinter mir liegt. Es riecht schmerzlich vertraut nach Maissilage, Kühen und Dung. Der Geruch hat etwas beruhigend Bodenständiges im Gegensatz zu all den fremden Gerüchten Istanbuls.

In der Türkei scheint es keine strikten Gesetze gegen das Wildcampen zu geben und so baue ich mein Zelt nur einen Kilometer hinter einem Dorf an einem See auf, an dem Fischreiher vor Einbruch der Nacht noch auf Beute lauern, Schwäne ihre letzten ruhigen Runden drehen und die Singvögel in den umliegenden Bäumen ihren Nachtgesang darbieten. Ich bin hundemüde und merke die letzten Wochen in jedem Knochen. Es gibt immer etwas zu erleben oder keinen Grund nicht wenigstens noch für einen letzten Cay bis spät in die Nacht die gemütlichen Teehäuser zu besuchen oder in einer Kneipe zu versumpfen. Auch wenn der Tag nicht darauf hat schließen lassen, wird es nachts auch Mitte April noch einmal bitterkalt.

Mitten in der Nacht schrecke ich plötzlich aus dem Schlaf. Es wird getrommelt und gesungen, es hört sich an, als ob ein mit Mistgabeln bewaffneter Mob auf dem Weg zu meinem Zelt sei. So jedenfalls mein erster Eindruck bis ich begreife, dass es die Ramadan-Trommler sind, die die zwei Stunden vor Sonnenaufgang nutzen, um die Fastenden für ihre letzte Mahlzeit vor Beginn des Fastentages zu wecken. Diese Tradition scheint zuletzt in Vergessenheit geraten zu sein, erfährt aber nun durch die konservative AKP wieder Unterstützung. Wie ich nachts bei 0 Grad die zwei Stunden des Trommelns wach in meinem Zelt verbringe, kann ich den Unmut manch säkularen Anwohners über die „Lärmbelästigung“ gut verstehen, aber ich versuche das Ganze als interessante kulturelle Erfahrung zu begreifen.

Durch die nächtliche Unterbrechung und die Erschöpfung der letzten Wochen stehe ich erst nach 13 Stunden gut ausgeschlafen auf. Etwas, was in der Stadt für mich undenkbar wäre. Bereits von den wenigen Kilometern des Vortrages schmerzen die Beine. Die im Vorjahr mal ansehnlichen Waden sind mittlerweile wieder zu den halben Portionen geworden, die sie immer schon waren. Auch an anderer Stelle macht sich der Fastenmonat bemerkbar. Es ist schwer in den kleinen Dörfern etwas zu Essen zu finden und auch der sonst allgegenwärtige schwarze Tee, der in diesem Land so viel mehr ist, als nur ein teeinhaltiges Heißgetränk, wird augenscheinlich nicht aufgebrüht. Ohne in die Köpfe der Menschen schauen zu können, scheint mir ein großer Gruppenzwang in den kleinen Orten zu herrschen. Fast so wie in Deutschland Mitte des letzten Jahrhunderts, als das Fehlen am Sonntag in der Kirche manchenorts von den Nachbarn geringschätzend bemerkt worden wäre.

Auf einsamen Landstraßen Richtung Süden, auf dem Weg zum ägäischen Meer, findet der Geist nichts, an dem er sich festsetzen kann. Es ist für mich zunächst ungewohnt nach der Zeit in der Stadt so „unbeschäftigt“ zu sein, aber schließlich lässt es mich ruhiger werden. Ist es nicht absurd, dass unser Geist immer Nichigkeiten nachhängt? Auch ich merke diese Tage, dass ich mich in den Pausen darauf freue auf mein Handy zu schauen, in der kleinlichen Hoffnung vielleicht Nachrichten empfangen zu haben. Das kann nicht gut sein.

Schließlich finde ich in einer etwas größeren Ortschaft einen Platz, an dem die Menschen es mit den Geboten des Propheten nicht so eng nehmen und kann einen Tee trinken und ein karges Mittagessen zu mir nehmen. Sofort werde ich von den älteren Herren, die rauchend und kartenspielend beisammensitzen in Beschlag genommen und es wird eifrig auf mich eingeredet. Vielleicht hat meine Fähigkeit einen Tee auf Türkisch zu bestellen falsche Hoffnungen geweckt. Vielleicht ist es so auch besser, als nebeneinander zu schweigen. Ein schüchterner Herr, der wie alle türkischen Rentner sehr sittlich angezogen ist, scheint zu sagen, dass er einmal in Frankreich gelebt hat. Mir wird bange, denn mein französisch erschöpft sich für gewöhnlich nach dem zweiten Satz, aber ihm fehlen schon nach dem ersten händeringend die Worte und wir wenden uns wieder schweigend unserem Tee zu. In Istanbul schätze ich es häufig, dass ich die hiesige Sprache nicht spreche und ich mich nicht mit dem Kummer tausender kleiner Konversationsfragmente belaste, die in so einer lebendigen Stadt an allen Orten aufzuschnappen wären. Hier entgegen würde ich mir wünschen mehr zurückgeben zu können, als mein verlorenes Lächeln in der Fremde.

Die Strecke wird immer fordernder. Eine mächtige, aber langsam ansteigende Gebirgskette von bis zu 1500 Metern trennt Marmara- vom Mittelmeer. Leider scheinen die kräftezehrenden Anstiege immer sinnlos zu sein, denn auf jeden Berg folgt ein gefühlt ebenso kurzer und intensiver Abstieg, den ich durch die schlechten Straßen und mit der Angst vom Stürzen, die seit dem Unfall letzten Jahres mitfährt, leider nicht richtig nutzen kann. Das fruchtbare Ackerland weicht langsam herrlich frischen Buchenwäldern und später auch Pinienwäldern, deren angenehm, harziger Geruch die Bergflanken herunterzuwabern scheint. Noch nie habe ich so viele Quellen entlang einer Straße gesehen. Alle 500 Meter wird das köstliche Bergwasser an Tränken zu Tage gefördert.

Die Dörfer, die ich durchfahre sind ärmliche kleine Siedlungen, bei denen nur die Straße rund um die Moschee wohlmeinend asphaltiert ist. Das Warenangebot der kleinen Läden gleicht einem Kiosk und sogar die sonst allgegenwärtigen Zigaretten sind hier knapp. Ich versuche noch einige Kilometer zwischen einem solchen Dorf und mir zu bringen, um die Nacht durchschlafen zu können und finde schließlich einen wunderschönen See, an dem ich mir noch ein kleines Lagerfeuer mache, um einen Grund zu haben noch nichts ins Zelt zu gehen. Durch die Tallage dringt in der Nacht das Getrommel trotz des Abstandes des Dorfes zu mir herüber und auch ein paar wilde Hunde wagen sich bellend an mein Zelt, ehe ich sie mit ein wenig Gebrüll vertreiben kann.

Das Wasser des Sees ist eiskalt am Morgen und wirkt besser als der Kaffee, den ich mir ohne Benzinkocher nicht kochen kann. Schon aus der Ferne lässt sich erahnen, dass mein heutiger Weg sehr fordernd wird.  Als ich nach einem Anstieg von fast 1000 Meter auf nur wenige Kilometer endlich den Bergkamm erreiche, lässt sich in der Ferne bereits das Mittelmeer erahnen und die Landschaft ändert sich. Riesige Olivenhaine lösen die vorher dominierenden Buchen und Pinien ab.

 Mit der sanften Dämmerung komme ich in Edremit an, einem kleinen Badeort an der „Oliven-Riviera“ der Türkei. Außerhalb der wirklich touristischen Gebiete und der Hauptsaison ist es hier möglich schon für umgerechnet 8 Euro ein spärliches kleines Zimmer zu bekommen und so bleibe ich zwei Tage, um ein wenig Arbeit zu erledigen. Es mag an meinen abzippbaren Wanderhose oder meinen, auch mir peinlichen, Lehrer-Sandeln liegen, aber immer wieder suchen Deutschtürken zielstrebig das Gespräch mit mir, weshalb, die zwei Tage angenehm schnell voreigehen.

Nach den zwei Tagen grübele ich, ob ich die Küste Richtung Çanakkale im Westen weiterfahre, um die Ruinen des historischen Trojas zu besuchen oder die Ägäisküste „hinab“ Richtung Izmir. Ich lasse eine Münze entscheiden und mache mich auf den Weg Richtung Izmir. Leider existiert der EuroVelo entlang der Küste wieder einmal nur auf dem Papier und mein Weg führt mich nur selten zum Meer. Wann immer ich die Küste kreuze, nutze ich die Gelegenheit, um bei kleinen reizenden Strand Cafés auf einen Tee zu halten.

Ich vertraue meiner Navigation und finde mich plötzlich in einem riesigen Olivenhain ohne wirklich Wege wieder. Auf steinigem Boden schiebe ich weiter, denn eine Umkehr wäre auf Grund der schlechten Straßenführung ein Umweg von 10 Kilometern. Auf einer kleinen Schotterstraße merke ich, dass mein Vorderreifen erneut platt ist. Eigentlich hatte ich erst in Edremit den Problemmantel genaustens untersucht und präventiv sogar den Schlauch gewechselt, um mir weiteren Ärger zu sparen. Unter dem Schutz eines knotigen Olivenbaumes mache ich mich das gefühlt dutzendste Mal an das Flicken des Reifens und schwöre mir ihn bei der nächsten Gelegenheit auszuwechseln, wenn ich schon nicht in der Lage bin den Störfaktor ausfindig zu machen. Während ich schlecht gelaunt rummuckele, hält eins der hier seltenen Autos neben mir und nachdem man mit brüchigen Englisch herausgefunden hat, wo ich herkomme, wählt man eine Nummer und mich begrüßt eine gutgelaunte Frauenstimme auf Deutsch und fragt, ob ihr Mann mir helfen könne. Ich bin begeistert von der Hilfsbereitschaft, aber lehne dankend ab.

Ich habe die Befürchtung, dass auch dieser Flicken den Reifen nicht dichthalten wird und beschließe bei der nächsten Möglichkeit auf eine kleinere Autobahn zu fahren, um vor Einbruch der Dunkelheit noch gut Strecke zu machen und alle 10 Kilometer eine Tankstelle zu wissen, an der ich den Reifen aufpumpen kann. Ich will bis zum Abend durchhalten, um dann am Zelt in Ruhe einen weiteren Flicken anzubringen. Nach einem späten Iftar-Abendessen fahre ich durch typische Ferienhaussiedlungen und suche mir meinen Zugang zum Strand. Die Gegend wirkt nicht sehr bewohnt. Während ich am Strand wie Falschgeld auf der Suche nach einem geeigneten Schlafplatz herumlaufe, erschrecke ich vor einem Mann mit 3 Hunden und ein paar weiteren Katzen auf der Promenade, aber grüße und ziehe weiter.

Ich lasse mein Fahrrad schließlich stehen, um den schmalen Strandabschnitt weiter zu erkunden, aber richtig zufrieden bin ich mit dem, was ich vorfinde nicht. Als ich zurück zu meinem Fahrrad komme und mir resigniert eine Zigarette anzünde, kommt der Mann, der nun auf den zweiten Blick kaum älter ist, als ich und sucht das Gespräch. Bahadir liegt mir nahe nicht an diesem Strand zu übernachten. Es gebe viele wilde Hunde und auch die Polizei kontrolliere den Strand oft, da nur 2 Kilometer von hier entfernt eine griechische Insel liege, so dass Geflüchtete – die durch den fadenscheinigen Deal zwischen Erdogan und Europa sich in großen Massen in der Türkei aufhalten – über solche Wege ihr Glück versuchen. Stattdessen lädt er mich zu sich nach Hause ein. Schnell kommen unsere Gespräche auf ein Videospiel, das unserer beider Jugend geprägt, ihn noch immer fest im Griff hat und wir fühlen uns verbunden. Im Haus seiner Familie darf ich eine kleine Wohnung im Erdgeschoss beziehen und kriege noch ein komplettes Frühstücksmenü für den nächsten Morgen hingestellt, da ich früh aufbrechen möchte. Es ist ein schönes Gefühl, wenn einem als Mensch ohne Vorbehalte getraut wird. Im Gegensatz zu den Menschen, die unter Gefahren von eben diesem Strand ihr Glück für ein besseres Leben versuchen.  

Am nächsten Tag ist der Himmel wolkenverhangen und windig. Mein Weg führt mich auf eine Art wasserreiche Hochebene, die landwirtschaftlich genutzt und durch Wasserkanäle strukturiert wird. Hier oben ohne greift der Wind ungestüm zu und ich quäle mich unter großem Lärm mit kleiner Geschwindigkeit voran. Es dauert fast drei Stunden ehe ich diese unwirkliche Landschaft durchschritten habe. Um es doch noch bis nach Izmir an diesem Tag zu schaffen und dem Stadtverkehr zu entgehen, nehme ich von der nächstgelegenen Stadt für die letzten 40 Kilometer schließlich einen Zug und komme in der Dunkelheit in der 4 Millionen Metropole mit einem platten Reifen an.

Wenn euch dieser Artikel gefallen hat und ihr zufällig eine Münze erübrigen könntet, würde ich mich sehr freuen, wenn ihr mein Spendenprojekt für “Ärzte ohne Grenzen” über den folgenden Link unterstützen würdet:

https://www.aerzte-ohne-grenzen.de/sich-engagieren/spendenaktion/online?cfd=d8gll

Christopher Rerrer

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.

Zurück nach oben