Anfang im Herbst

Aller Anfang sei schwer sagt der Volksmund, doch wohne jedem Anfang ein Zauber inne entgegnet Hermann Hesse.  Wann passiert es schon, dass man eine Reise wirklich selbstbestimmt beginnt? In der Regel wurde das entsprechende Ticket Monate vorher gebucht und der eigentliche Reisebeginn ist nur eine Konsequenz einer bereits getroffenen Entscheidung. Ein eigentständig getroffener Abschied ohne die Verpflichtung einer Abreise gestaltet sich schwierig. Ist die Entscheidung die richtige? Ist der mögliche Gewinn den sicheren Verlust wert? Die Endlichkeit scheint nicht wegen meines Alters, aber des Alters lieber Menschen schwerer zu wiegen, als noch vor ein paar Jahren.

Es hilft alles nichts. Nach einem dritten Frühstück fällt die Ausrede weg für eine „letzte“ Mahlzeit noch länger zu bleiben. Appeteit ist ohnehin nicht vorhanden. Das Gepäck habe ich oft genug überprüft, umständlich verzurrt und probegefahren. Noch mehr letzte Worte mit meinem Großvater auszutauschen, würde einer Posse gleichkommen. Letztlich ist es ein Irrglaube, dass „letzte“ Worte eine solches Gewicht besäßen. Die Brücken unseres Miteinanders wurden vor allem am Anfang und allmählich erbaut.

So beginnt es: 40 Kilo Gepäck auf dem Fahrrad, die ein oder andere Sorge im Herzen und eine Schwerfälligkeit in mir, die mich daran erinnert, dass dieser Aufbruch keinesfalls notwendig ist und der einlullende Komfort der letzten Monate nicht aufgegeben werden muss. Jeder kennt eine solche Situation. Normalerweise fügt man sich, wenn der Zug rollt, die Autobahnauffahrt genommen wird oder der Flieger abhebt. Normalerweise. Jeder Pedaltritt fällt schwer. Die unsichtbare Macht, die mich fortzieht, brennt nicht mit der gleichen Intensität, mit der sie die letzten Jahre meine Vorstellungskraft befeuert hat. Ich habe über 80km zu grübeln und ein jeder weiß, dass die Versprechungen des „sittlichen“ Lebens zu Zeiten körperlicher Erschöpfung und Schwäche am verheißungsvollsten erscheinen. 

Mit den Tagen fällt die Schwere, trotz der anhaltenden Erschöpfung durch diese ungewohnte Tätigkeit, langsam ab. Lange Strecken mit einem solchen zusätzlichen Gewicht sind doch etwas anderes, als die „call-a-bike“ Fahrten der letzten drei Jahre in Frankfurt. Trotz all dieser großen und kleinen Widrigkeiten erkenne ich das Faszinierende im Herbst aufzubrechen. Die Welt um mich herum verlangsamt sich, all das Sterbenmüssen, was einen stets umgibt, wird aufeinmal greifbar und an hundert kleinen Eindrücken messbar. Ein jeder mit Verstand bereitet sich nicht nur materiell auf den Herbst vor, sondern tut gut daran auch die letzten Sonnenstrahlen und Eindrücke zu sammeln. Die Gerüche, die in der schweren, kühlen Herbstluft liegen sind überwältigend. Sie haben das Versprechen auf Veränderung inne, beschwören durch das gelegentliche Aufziehen von Rauch mir liebe Kindheitserinnerungen und die Einsicht, dass das Empfinden der Jahreszeiten und der Zeit einmal anders war. Es waren unbekümmerte Zeiten in denen der Lauf der Dinge, Herbst und Winter mir keine Befürchtungen einjagten, sondern als Chance für neue Arten des Spielens empfunden wurden. Mit Kastanien und Laub, mit Schneeballschlachten und gemütlichen Nachmittagen. Diese Neugierde auf Veränderung und die Aktzeptanz eben dessen gilt es zu leben. Und so erfreue ich mich trotz der Sorge mich vielleicht überschätzt zu haben, der einfachen Tatsache hier draußen zu sein und ganze Tage mit dem Herbst zu verbringen. Ganz gleich, ob er sich an einem Tag im schönsten Kleide oder am nächsten von seiner hässlichsten Seite zeigt. 

Christopher Rerrer

Ein Gedanke zu ”Anfang im Herbst

  1. Lieber Christopher, deine Karte aus Portugal hat mich erreicht. DANKESCHÖN!!!! Ich freue mich immer sehr, auch nach langer Zeit, von „Ehemaligen“ zu hören. Um deine Reise beneide ich dich sehr. Gerade Portugal ist ein Land, das jedem, der es besuchte, unvergessen bleibt. Ich wünsche dir weiterhin viele wunderbare neue Eindrücke und Einblicke. Genieße die Zeit, auch wenn es Tage geben wird, die dich vielleicht an deinem Unterfangen zweifeln lassen. Viele wünschen sich Zeit ihres Lebens, diesen Schritt gewagt zu haben…. du bist mittendrin.
    Lass von dir hören! Katrin B.

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