Frankreich

Penibel gepflegte Vorgärten, schmucke Mittelklasse in den Einfahrten und verschmitzt lächelnde Schweinefiguren, die sich hinter den Schaufensterscheiben der örtlichen Metzger räkeln. Ohne die entsprechende Beschilderung hätte nichts darauf hingedeutet, dass wir vor kurzem die Grenze nach Frankreich überschritten haben. Die Hoffnung auf Veränderung, die Vorfreude auf den zu erwartenden Esprit wird wohl nirgends in Frankreich bodenständiger und ehrlicher enttäuscht als hier im Elsass. Alles fühlt sich an, als ob mein Kumpel Frederik, der mich spontan die ersten Tage zum Mittelmeer begleiten will, und ich noch immer in der rheinland-pfälzischen Provinz wären. Die Gastwirtin einer kleinen, schön restaurierten Kneipe, in der wir am Morgen vor dem Regen Zuflucht suchen und uns bei Kaffee aufwärmen, die im besten elsässisch über Türken, Afrikaner und Araber herzieht, verstärkt diesen Eindruck. Nichtsdestotrotz teilt sie bereitwillig Brot, Butter und ihr Weltbild mit uns. Letzteres weckt Erwartungen in Straßburg babylonische Zustände anzutreffen. Sie warnt vor dem Fremden und teilt mit den Fremden. Die Welt ist paradox und die Objektifizierung von Menschen Quell vielen Übels.

Von Lyon aus können wir der Via Rhonâ – einem französischen Fernradweg – für fast 400 km Richtung Süden folgen. Die kleinen Ortschaften entlang der Rhône sind schön anzusehen. Mal schmiegen sie sich an die Flanken das Tals, mal liegen sie ganz nah am Ufer, bieten große Freizeitflächen und dem Flusse zugewandte Terrassen. Die Menschen, denen wir begegnen, scheinen stets gut gelaunt und im Einklang mit dem mächtigen Strom zu sein.Es ist leicht sich von dem hiesigen Lebensgefühl anstecken zu lassen und ich würde gerne halten, um den älteren Herrschaften – die bei gutem Herbstwetter die Grünanlagen in Scharen besiedeln – bei ihrem virtuosen Boule-Spiel etwas länger zuzuschauen, doch das Mittelmeer ruft.

Nach einigen Tagen Kilometerfressen nehmen wir uns die Zeit und einen Umweg in Kauf, um einen meiner Lieblingsorte in dieser Gegend der Ardèche zu besuchen: Die Kaskaden von Sautadet. Auf über 500 Metern hat die  Céze den weißen Kalkstein vielfältig und fantastisch geformt. Rasante Strömungen und Wirbel liegen direkt neben ruhigen Becken, in denen man viele Fische und mit Glück sogar eine Schlange beobachten kann. Aufgrund der Nebensaison und der wieder erstarkenden Pandemie ist an diesem Werktag recht wenig los und so können wir mit der Dämmerung ungestört unsere Isomatten an einem kleinen, abschüssigen Kiesstrand ausbreiten. Es ist ein interessantes Gefühl, wenn man einen solch zufälligen, weit entfernten Ort durch das wiederholte Aufsuchen zu etwas vertrautem macht.

Nach 10 Tagen kommen wir endlich am Mittelmeer in Saintes-Maries-de-la-Mere in der großen Camargue an, der Heimat der weltbekannten „Gipsy Kings“. Es herrscht ein kräftiger, kalter, atlantischer Nord-West-Wind und es sind 10 C° am Abend, die sich noch kälter anfühlen. Trotzdem sind wir glücklich darüber dieses Etappenziel gemeinsam erreicht zu haben. Die Kneipen der Stadt sind trotz Corona und der Jahreszeit gut besucht und so können wir nicht widerstehen, dem aufkommenden Abschiedsblues bei spanischer Live-Gitarrenmusik und ein paar Schoppen präventiv beizukommen.

Die kommenden Tage arbeite ich mich bei schlimmsten Gegenwind und einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 8 km/h zum Beginn des ‚canal du midi‘ nach Sète vor. Dieser Kanal erfüllte im 17. Jahrhundert den lang geträumten Traum einer Verbindung des Mittelmeeres mit dem Atlantik. Die Ergebnisse der Recherche loben den Kanal als einen der schönsten Radwege Südfrankreichs, insbesondere den Charme der Treidelpfade, auf denen man die Geschichte hautnah erleben könne und die uralten Platanen, die sie säumen. Sogar der Begriff „Weltwunder“ ist bei manchem Tourismusanbieter zu lesen. Leider sind die Treidelpfade dermaßen verwachsen und uneben, dass innerhalb eines Tages zwei Halterungen meiner Taschen brechen. Nicht wenige der Platanen mussten inzwischen wegen eines Pilzbefalls abgeholzt werden. Die Lage des Kanals auf dem Bergsattel zwischen Pyrenäen und französischen Zentralmassiv kommt einem Windkanal gleich und sorgt dafür, dass das ganze Unterfangen mehr Qual als Vergnügen ist. Voller Neid und Bewunderung beobachte ich die vielen Hausboote und kleinen Yachten, die entspannt auf dem Kanal dahin schippern. Es ist das erste mal, dass die Stimmung zu kippen droht. Nach 130 Kilometern am Kanal komme ich entnervt, nass und durchgefroren in Carcassonne an und sehne mich nach zwei Wochen zelten nach ein wenig Komfort. Wie es der Zufall will, lerne ich in einem Hostel Joscha kennen. Ein entspannter Typ, der auch mit dem Rad unterwegs ist und mittelfristig ähnliche Ziele hat. Wir beschließen ein paar Meilen zusammen zufahren und nehmen am nächsten Morgen einen Zug nach Bordeaux, in der Hoffnung dort besseres Wetter und ein leichteres Vorankommen auf den großen europäischen Radwegen zu erleben.

Die Gegend südlich von Bordeaux begeistert uns mit endlosen Hügeln und einer unglaublichen Dichte von Weingütern, die allesamt eher alten Adelssitzen als „Produktionsstätten“ ähneln und zu Recht als “châteu” bezeichnet werden. Es ist schön zu sehen, wie mancher Weinberg sogar noch mit Ross und Pflug bewirtschaftet wird. Langsam führt uns der Weg in endlose Pinienwälder. Die Pinien stehen so streng in Reih und Glied, dass der ich mich freue, wenn es zumindest am Wegesrand einzelne Bäume gibt, die sich der Ordnung erwehren. Inzwischen folgen wir dem EuroVelo 1, der in dieser Gegend „Velodysée“ heißt. Gibt es einen schöneren Namen für einen Radweg? Umso näher wir der Atlantikküste kommen, desto urwüchsiger wird der Forst. Immer wieder werden die Pinienwälder von schönen Eichenhainen durchbrochen. Die warmen Sonnenstrahlen bringen die vielversprechendsten Düfte aus den Pinien hervor, der sich gleich eines Seidentuches über den Landstrich legt und nur gelegentlich von einem leichten Meereswind in Wallung gebracht wird. Würde ein Alchemist es sich zur Aufgabe nehmen den Duft des Sommers zu destillieren, dann wäre diese eigentümliche harzig-süße Duft, der einen wohlig umschließt – ohne dabei aufdringlich zu sein – sicher die Hauptkomponente. Er schlägt für mich eine Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart und lässt mich an viele glückliche Momente im Sommer erinnern, denen dieser Duft als Bühne diente.

Wir kommen gut voran, doch die knapp hundert Kilometer landeinwärts zum Beginn des französischen Jakobsweges in Saint Jean Pied de Port geben uns einen Vorgeschmack darauf, wie die Überquerung der Pyrenäen sein wird. Es sind keine großen Steigungen, doch die bisherige Route entlang von Flüssen, Kanälen und der Küste hat uns bezüglich der topographischen Anforderungen recht verwöhnt. Joscha und ich beschließen einstimmig unsere sehr angenehme Zeit zusammen mit dem Beginn der Pilgerfahrt zu beenden, um eine intensivere – aber gewiss auch schwierigere – Episode zu durchleben.

Mit dem Besuch des Pilgerbüros in St. Jean Pied de Port werde ich das erste mal seit Wochen aus meiner angenehmen Unwissenheit aufgeweckt. Es heißt, dass die autonome Region Navarra sich als erste des Landes in einem Lockdown befände, die Grenzen zu Frankreich dicht seien, Burgos keine PIlger mehr ins Stadtinnere lasse, Leon und Kastilien wenigen Tagen nachziehe und alle spanischen “Albergues” geschlossen seien.

Der nette, aufgeschlossene, auf den ersten Blick etwas bieder wirkende Wirt der Pilgerherberge zeigt im Angesicht dieser düsteren Aussichten, aus welchem Holz er tatsächlich geschnitzt ist. Auf einer sehr detaillierten Karte der Region präsentiert er uns kleinere Wege – Schmuggelrouten, wie er sie nennt – die er am geeignetsten für einen unbemerkten Grenzübertritt hält. Falls das Wetter umschlagen sollte, befinde sich laut Karte dort sogar eine Schutzhütte. All diese Restriktionen, sowie das Wissen um einen Aufstieg von fast 1200 Metern auf nicht einmal 20 Kilometer Strecke lassen mich dem Abenteuer mit sehr gemischten Gefühlen entgegenblicken. Mit all diesen Widrigkeiten konfrontiert fühle ich mich den Abend vor dem Aufbruch ohnmächtig und der Schlaf erlöst mich nur zögerlich.

Ich habe gute Gründe mich am nächsten Vormittag lange vor dem Aufstieg zu drücken. Schon Jahre habe ich nicht mehr etwas so kräftezehrendes erlebt. Wie Sisyphos wende ich meine „letzten“ Kräfte auf Steigungen an – auf denen ich so langsam fahre, dass ich Angst habe umzukippen – bin dabei voller Zuversicht, dass ein Ende naht, nur um hinter der nächsten Kurve erneut enttäuscht zu werden und ein neues, endlos scheinendes Panorama von weit entfernten Gipfeln und nahen Weiden auftaucht. Doch umso weiter und höher ich es schaffe, desto mehr Kraft kann ich aus dem bereits Überwundenen schöpfen. 

Ein mir entgegenkommendes Ehepaar im Wohnwagen bietet mir Wasser an und fragt mich nach meinem Ziel, wo doch die Grenze geschlossen sei. Langsam wird die Landschaft rauh, die Wolken scheinen immer näher und ziehen in dramatischen Mustern schnell an mir vorbei. Während ich die ersten Kilometer halbnackt und schweißüberströmt bewältige, wird es schnell so kalt, dass ich mir fast alle verfügbaren Schichten wieder anziehe. Mit der Zeit werden die Anstiege weniger anspruchsvoll und ich lasse mich vom Wechselspiel aus Sonne und Wolken gut unterhalten. 

Den Umweg zur „Schmugglerroute“ einschlagend, finde ich mich plötzlich in undurchdringlichen Nebelbänken mit geringer Sichtweite wieder, in denen das Meckern der Bergziegen gespenstisch von allen Seiten schallt. Ebenso schnell, wie der Nebel aufgezogen ist, gesellt sich ein kräftiger herbstlicher Regenschauer dazu. Die Schutzhütte, die eher einem Schuppen gleicht, ist verschlossen. So erreiche ich völlig durchnässt am späten Nachmittag die grüne Grenze, beschließe die letzte Stunde vor dem Sonnenuntergang mit dem Abstieg in hoffentlich mildere Gefilde zu verbringen und summe dabei vergnügt die Melodie von Leonard Cohens „Partisan“.

Christopher Rerrer

4 Gedanken zu „Frankreich

  1. Hallo Christopher……..ich weiß gar nicht was ich sagen soll, so beeindruckt bin ich von deinen Berichten und den tollen Bildern. Mal abgesehen davon, es ist toll was du machst und es gehört viel Mut dazu. Ich kann nur sagen …….ich wünsch dir viel Kraft und Energie für deine weitere Reise und vor allem bleib gesund. Fühl dich gedrückt, Heidrun

  2. Hey lieber chris 🙂
    Nachdem ich deine Postkarte bekommen habe, habe ich mich riesig gefreut und musste gleich deinen blog durchlesen! Da kam Melancholie hoch… super geschrieben!

    Danke dir für die tolle Zeit und weiter alles gute für deinen Weg. Ich finds klasse was du machst.

    Glaube man sieht sich immer zweimal im Leben.
    Macha gut, Joscha

  3. Hallo Christopher,

    danke für deine Karte. Eine riesige Überraschung.
    Ich bin begeistert von deinen Berichten und den tollen Fotos.
    Weiterhin gute Fahrt und bleib gesund!

    Frederiks Oma

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