Spanien oder Pilgern in Zeiten von COVID-19

Erst nachdem ich viele Kilometer und einige Abbiegungen hinter mich und die grüne Grenze gebracht habe, wähne ich mich in Spanien in Sicherheit. Langsam legt sich die Aufregung und Anspannung der vergangenen Stunden und weicht Euphorie, Erschöpfung und auch Belustigung über mich selbst. Wahrscheinlich war ich etwas zu paranoid. Ich freue mich, dass ich mit dem „Camino Frances“ endlich wieder entspannt einem Fernwanderweg folgen kann, doch schnell stellt sich der reguläre Jakobsweg mit dem schwer beladenen Fahrrad als untauglich zum Radfahren heraus. So fahre ich meistens auf ruhigen Landstraßen neben ihm her.

Die Straßen sind durch den Lockdown innerhalb der autonomen Region Navarra weitestgehend verwaist. Am Wochenende begegne ich vielen Rennradfahrern, die den strikten Einschränkungen innerhalb der Städte entfliehen. In Deutschland konnte ich diesen zu sich selbst strengen, vielleicht gar masochistisch veranlagten Freizeitathleten immer nur wenig Sympathie entgegenbringen. Ihr Leiden ist nie das meinige gewesen. Mit ihrer konzentrierten, verbissenen Mimik wirken sie gewöhnlich abweisend und die Uniformiertheit durch Helm, Leibchen und Brille nimmt ihnen das Nahbare. An einsamen Tagen auf der Landstraße tut es mir jetzt hingegen gut, wenn ich mich durch das lautstarke Grüßen, lässige Winken oder sogar dem ein oder anderen Lächeln in ihren Kreis aufgenommen fühle und anonyme Kameradschaft spüre.

Wenn man sich mit Leuten unterhält, die den Jakobsweg gepilgert sind und sich nach ihren Erlebnissen erkundigt, bekommt man häufig zu hören, dass es vor allem die gefühlte Gemeinschaft, der Austausch und das häufige Wiedersehen mit den anderen Pilgern ist, was den Weg für sie zu einer besonderen Erfahrung gemacht hat. Es wird mir schnell bewusst, dass es töricht von mir wäre ebensolche zu erwarten. Statt auf Erkenntnisse im Austausch darf ich nur auf Einsichten durch Schweigen hoffen. 

Der Herbst, die Pandemie und mein abweichender Weg sorgen dafür, dass ich erst nach fünf Tagen den ersten Pilger zu Gesicht bekomme. Im Verlauf von 13 Tagen und mehr als 900 Kilometern sollen es nicht mehr als 21 Pilger werden, die ich zumal meist nur aus der Ferne sehe. Es ist eine triste Statistik über den Jakobsweg, aber ich freue mich gleichzeitig auch der Besonderheit dieser Reise.

Ich bekomme eine Nachricht von meinem Reise-Kumpel Joscha, der durch einen früheren Start des Jakobsweges gut einen Tag Vorsprung hatte. Unter diesen Umständen konnte er an dem Jakobsweg keinen Gefallen finden und so hat er von Pamplona aus einen Zug nach Barcelona genommen. Noch in der ersten Nacht wurde ihm in der Stadt sein Fahrrad gestohlen, wodurch seine Reise zu einem vorzeitigen Ende kommt. Bewundernswerterweise nimmt er es sportlich und stoisch.

Offiziellen Quellen zu Folge sei es nicht möglich die autonome Region Navarra während des Lockdowns zu verlassen und so nehme ich mir vor, mein Glück auf kleinen Nebenstraßen in den Bergen zu versuchen. Ich bin so in Gedanken, dass ich meine Abzweigung von der Hauptroute verpasse und die Polizeikontrolle an denen der “Passierschein” der Autofahrer kontrolliert wird, 100 Meter vor mir auftaucht. Zum Umdrehen ist es jetzt zu spät und so krame ich, während ich in der Schlange warte, mit zittrigen Händen aus meiner Lenkertasche alles an Dokumenten hervor, was sich als nützlich erweisen könnte. An der Reihe angekommen werde ich nur durchgewunken und keines weiteren Blickes gewürdigt. Ich nehme mir vor in Zukunft auf jegliche Recherche über das Thema zu verzichten und mich nicht weiter verrückt zu machen. Unwissenheit ist ein Segen und zwischen Theorie und Praxis der Beschränkungen liegen Welten. Als Radreisender scheint man durch das Raster zu fallen. 

Ich genieße die viel zu kurze Fahrt durch die Region La Rioja, dem weltweit bekannten Weinanbaugebiet, mit ganzem Herzen. Zu dieser Jahreszeit färbt sich der Wein in einem letzten Aufbäumen vor dem Winter in allen Farben des Feuers. Von einem älteren, freundlichen Herren mit dem Habitus eines Oberstudienrats werde ich drauf hingewiesen, dass ich mich an den nicht ausgelesenen Trauben der abgeernteten Weinstöcke bedienen kann. Dadurch sei es vor allem auch armen Leuten stets möglich gewesen sich unter einfachen Bedingungen ihren eigenen Wein zu keltern, der in dieser Region seit jeher als Grundnahrungsmittel dient. Die überreifen Trauben sind reichlich vorhanden, schmecken besonders am frühen Morgen – vom Tau gekühlt – köstlich. Es ist ein gutes Gefühl zumindest einen kleinen Anteil seiner Lebensmittel auf dem Weg eines Sammlers zu bestreiten. Ein zu kleines Trostpflaster für all die Einkäufe beim Discounter

In dieser Gegend verändert und wandelt sich die Landschaft rasant. Auf die paradiesisch anmutenden Weinberge Riojas folgt der nördliche Ausläufer der „Meseta Central“, einer Hochebene die weite Teile Spaniens durchzieht. Diese dünn besiedelte, karge, aber landwirtschaftlich sehr intensiv genutzte Gegend auf 800 Meter ü.d.N. stellt für viele Pilger auf fast 200 km eine der anspruchsvollsten Etappen dar. Es ist als ob jemand die Agrarwüsten Niedersachsens mit der Landschaft Mordors aus Herr der Ringe vermischt hätte. Ein endloser Flickenteppich aus unterschiedlichsten Brauntönen zieht sich bis zum Horizont. Die schroffen Felsen, die hier und da einen armseligen Kontrast zu den Feldern geben, haben auch den kleinen steinernen Siedlungen ihre Farbe geschenkt. Trotz ihrer Einfachheit erscheinen sie mir wie Oasen inmitten all dieser Monotonie.

Auch wenn ich mich in dieser Jahreszeit nicht mit fehlendem Schatten herumplagen muss, ist dafür ein stetiger, kräftiger Wind vom Atlantik mein ständiger Wegbegleiter und Gegenspieler. Er bringt mich häufig an meine Grenzen. Es ist unglaublich wie kräftezehrend dieser bis zu 60 km/h schnelle Südostwind für Körper und Geist ist. Ein englischer Expat erzählt mir, dass ich zu dieser Jahreszeit entweder diesen Gegenwind oder einen unangenehm kalten Nordostwind zu ertragen habe. Trotz dieser Hiobsbotschaft erfreue ich mich des Gesprächs, seines britischen Akzents und seiner ungenierten Sprache. Es ist inzwischen einige Tage her, dass ich mich – abgesehen von radebrechenden “Verkaufsgesprächen” in Cafés – mit jemandem unterhalten habe. In dieser Kargheit fühlt man sich leicht einsam und verlassen.

Mehr als vier Tage benötige ich trotz Fahrrads für diese Etappe. Trotz langen Tagen auf der Straße schaffe ich einfach nicht mehr als 50 km am Tag. Doch viel schlimmer, als die zusätzliche Anstrengung ist die gefühlte Ruhelosigkeit. Die bisherigen 2500 km haben mir gezeigt, wie wichtig innere Ruhe ist, um für die Herausforderungen der Reise gewappnet zu sein. Die turbulente Geräuschkulisse des Windes und die unzähligen Lastwagen, die auf dieser großen Bundesstraße schnell an mir vorbeifahren sind purer Stress. Es ist nicht leicht stetig die Konzentration aufzubringen, damit die immer wiederkehrenden Windböen mich nicht vom  Seitenstreifen wehen. Nur selten findet man mit Glück einen Schutz vor dem Wind und so bin ich immer froh, wenn ich mich abends in mein Zelt zurückziehen kann.

Nichtsdestotrotz ist mir der Wind auch ein guter Lehrer. Es hat keinen Zweck mit großer Anstrengung gegen ihn anzufahren. Ich lerne ihn zu akzeptieren, passe meine Geschwindigkeit an und versuche mit meinen Kräften hauszuhalten. Eine Lektion in Sachen Demut vor der Natur ist in unseren Zeiten etwas Wertvolles und ich erfahre sie auch in Bezug auf das allgemeine Wetter. Trotz einer verspäteten Abreise hatte ich auf meiner Flucht vor dem Herbst bisher viel Glück, doch langsam sind seine Zeichen auch hier im Norden Spaniens klar und deutlich zu lesen. Nur ein Narr würde denken, dass er ein solches Wettrennen auf Dauer gewinnen könne.

Mit dem Ende der Meseta lässt der Wind langsam nach und ein anderes Naturschauspiel nimmt seinen Lauf. Jeden Morgen legt sich ein dicker Nebel über das hügelige Terrain. Ich schlafe mit ruhigem Gewissen etwas länger, denn bei Sichtweiten von 30 Metern ist auch bei schlecht gewählten Schlafplätzen die Wahrscheinlichkeit entdeckt zu werden gering. Der Nebel verhüllt die Landschaft, lässt Konturen verschwinden, gibt ihr etwas mystisches und nicht greifbares. Ich habe Freude daran mir vorzustellen, wie sich die Landschaft innerhalb dieser stundenlangen Irrfahrt um mich wohl verändert haben mag. Erst gegen Mittag durchbricht die Sonne den Nebel, entlockt sein Geheimnis. Wie so oft im Leben ist der Reiz des Verborgenen größer als das Enthüllte

Die “Montes de Leon” auf denen sich das berühmte Cruz de Ferrou befindet, stellt einen weiteren landschaftlichen Wendepunkt dar und beendet die vorherrschende Kargheit der Meseta endgültig. Der Aufstieg auf 1500 m benötigt einen ganzen Vormittag, aber er lohnt sich. Weniger für die religiöse und symbolische Bedeutung dieses Ortes, an dem Pilger klassischerweise einen von zuhause mitgebrachten Stein oder Gegenstand als Symbol ihrer getragenen Sünden und ihrer Läuterung ablegen, als aus ganz hedonistischen Gründen: der Abfahrt. Auf wenigen Kilometern und Minuten fliegt all das an mir vorbei, für das ich mich stundenlang abgemüht habe. Wie in einer Achterbahn verschwimmt alles in meinem äußeren Sichtfeld, die Augen tränen und lassen den strahlend blauen Himmel wie durch ein Kaleidoskop erscheinen. Die Kurven und steilen Abfahrten sind das reinste Vergnügen und ohne großes Zutun erreiche ich Geschwindigkeiten von über 60 km/h. Das Klappern meines Kochgeschirrs bei Bodenwellen erinnert mich dann aber doch daran, mich meiner Lage zu besinnen und es nicht zu bunt zu treiben.

Das Land wird von Heerscharen von Hunden bevölkert. Solchen, die innerhalb der  Grundstücke meist angekettet und rasend vor Wut und Langeweile sind und jenen, die hyäenenhaft gebückt, mit schreckhaft traurigem Blick und blutigen Pfoten durchs Land trotten. Ersteren gebührt meine Furcht und mein Hass, den zweitgenannten mein Mitleid. Manchmal erwärmt es mein Herz, wenn ein großer, drolliger Hund in einem Garten mich nicht anbellt und mich stattdessen verschlafen mustert. Während ich ihn zärtlich anschauend vorbeirolle, muss ich erfahren, dass er nur als phlegmatischer Sidekick für einen vierbeinigen Teufel dient, der an einer anderen Ecke des Grundstücks bereits auf mich lauert, um mich mit aufgestauter Energie in meiner Sorglosigkeit zu erschrecken. Die wenigen Pilger dieses Jahr scheinen an vielen Stellen zu fehlen. 

Das Ankommen in Santiago de Compostela, was sicherlich für viele Jakobswegpilger ein wichtiges Erlebnis ist, weckt in mir keine besonderen Gefühle. Der lokale Tourismus, die Gastronomie und der Einzelhandel scheinen komplett auf den Jakobsweg ausgerichtet zu sein. Die über 300.000 Touristen, die allein durch die unterschiedlichen Wege im Jahr 2019 angekommen sind, stellen eine große wirtschaftliche Bedeutung für die ansonsten zerrüttete Region und Stadt dar. Trotzdem wird es augenscheinlich, wie dem goldenen Kalb kokettiert wird. Der überall feil gebotene Jakobsweg-Merchandise-Ramsch made in China, die schlecht bearbeiteten Aufsteller vor den Restaurants, die die nicht selten die immer gleichen, tiefgekühlten “Pilger-Menüs” bewerben, erinnern an die Schattenseiten dieses “Massentourismus”. Doch verstehe ich gut, dass nach dem von der EU verordneten jahrelangen Kaputtsparen nach der Finanzkrise nun jeder seinen Anteil am regionalen Aufschwung haben möchte.

Ich vergesse meinen guten Vorsatz mich nicht mehr an offizielle Stelle bezüglich der Corona-Restriktionen zu wenden und suche nach dem obligatorischen Besuch der Kathedrale noch eben das Tourismusbüro auf, um mich nach Radwegen nach Portugal zu erkundigen. Mir wird reichlich eingeschenkt. Die Grenzen seien dicht und es wäre mir als Pilger nur mit einem Flug erlaubt nach Deutschland zurückzukehren. Verärgert und belustigt über mich selbst verlasse ich die Stadt gen Süden. 

Die Spanier nehmen die Maskenpflicht sehr ernst. Zum einen ist es angenehm, dass man nicht wie in Deutschland ständig großporige Alkoholikernasen aus jeder zweiten Maske hervorlugen sieht. Andererseits führt das ganze soweit, dass ich teilweise mitten in der Natur Paare und einzelne Menschen beobachte, die ihre Maske tragen. Sogar für die Pilger ist die Maske auf dem Weg in der Theorie verpflichtend. Für common sense scheint in Zeiten der Pandemie kein Platz zu sein. Aber vielleicht benötigt es des Erlebnisses der Ohnmacht des letzten Winters, der hohen Todeszahlen und der Überlastung des Gesundheitssystems, um diese Rigorosität besser nachvollziehen zu können. Die gewaltvollen Ausschreitungen, die Anfang November in vielen spanischen Städten gegen die Corona-Maßnahmen stattfinden, stehen in einem Kontrast zu diesem beobachteten Gehorsam und zeigen, wie angespannt die Situation für die Bevölkerung ist.

Es sind nicht nur die maskierten Gesichter, die einen abweisenden Eindruck machen. Das Stadtbild spiegelt diesen Eindruck. Meist sind alle Holzläden der Häuser verschlossen, die öffentlichen Bänke verwaist und nur ein paar trotzige, lebensbejahende sieht man in einzelnen Cafés beisammen sitzen. Genau einen Tag, nachdem ich meinen Jakobsweg beende, tritt die autonome Gemeinschaft Galicien in einen einmonatigen Lockdown ein.  Sämtliche Cafés und Restaurants sind geschlossen. Vor einer Bäckerei stehe ich am Sonntag mit 20 anderen zusammen für das Brot an. Es ist Zeit schnellstmöglich Portugal zu erreichen. Die Situation scheint dort bisher noch entspannter zu sein. 

Christopher Rerrer

3 Gedanken zu „Spanien oder Pilgern in Zeiten von COVID-19

  1. Hallo Christopher , es ist ein Vergnügen Deinen Block zu lesen . Dein Wortschatz ist vielfältig und informierend .Bleib gesund , pass auf dich auf . Gruß Martina

  2. Hallo Christopher
    Deine Berichte sind sehr,sehr gut. Es ist, als wären wir mit dir unterwegs gewesen und alles miterlebt hätten.

  3. Tag grosser! Wir kucken nach dir ! Und du wie heute sehen habe nach uns. Chikky und wir fand euch super! Für seit Rockstars!

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