Portugal

Die Luft ist raus. Die kalten Regenschauer der letzten Tage, die Strapazen der letzten sechs Wochen und die immer näher um uns alle kreisenden Seuchengeier fordern ihren Tribut. Ich fühle mich schlapp und nicht bereit direkt in Portugal weiterzufahren. Gerne würde ich an einem Ort etwas länger verweilen, die Annehmlichkeiten eines Hauses genießen und mich ein bisschen auskurieren. Eigentlich zu kurzfristig hole ich mir „workaway“, ein soziales Netzwerk, dass Freiwillige und Gastgeber miteinander verbindet, um den uralten Tauschhandel von Arbeit gegen Kost und Logis zu organisieren. Auf gut Glück schreibe ich einen Gastgeber in der Nähe der spanischen Grenze an und tatsächlich taucht wenige Stunden später eine Antwort auf. Ich bin willkommen. So verbringe ich die nächsten drei Wochen am großen Minho Strom nahe der spanischen Grenze bei einem exzentrischen und humorvollen Franzosen und seinem riesigen „Sierra de Estrella“ Hütehund Tinto.

Eric hat sein Leben vollkommen umgekrempelt. Früher erfolgreicher Geschäftsmann, hat er sich von allem gelöst und ist mehrere Jahre auf Sinnsuche durch die Welt gereist. Als er den Camino Portuguese pilgert erscheint ihm das Zeichen, nach dem er sich gesehnt hat. Entlang des Weges entdeckt er ein komplett zugewuchertes, steinernes Gebäude, eine alte Wassermühle, die seit 50 Jahren verlassen ist. Er verliebt sich sofort in diesen Flecken Erde, verweilt daher ein paar Tage in der Gegend, holt Erkundigungen ein und klärt Eigentumsverhältnisse. Mit dem guten Gefühl, dass sein Pilgern ihm schon jetzt mehr gegeben hat, als er sich jemals erhofft hatte, beendet er die verbliebenen 170 Kilometer, nimmt noch am selben Tag einen Bus zurück nach Villa Nova de Cerveira und erwirbt das Grundstück. Zu diesem Zeitpunkt weiß er nicht, was ihn tatsächlich unter dem Dickicht der Pflanzen erwartet.

Als ich zwei Jahre später zu seinem Projekt hinzustoße hat sich schon viel getan, aber es gibt noch immer viel grobe Arbeit zu tun. So verbringe ich meine Tage damit überschüssige Erde zu schaufeln, vermeintliche Löcher zu füllen und Hinkelsteine umher zu wuchten. Neben mir kommt noch ein irisches Paar an und so leben wir diese Tage in angenehmer kleiner Gemeinschaft, während die Welt um uns herum aus den Fugen gerät. Seamus ist Tischler und sachverständig, weshalb ich ihm als Handlanger zuarbeite. Es sind arbeitsreiche Tage, aber ich mag es auf diese Weise zu lernen. Wann hat man schon die Möglichkeit eine Mauer zu bauen oder bei einem improvisierten Holzdeck mitzuhelfen, bei dem nicht mehr als Hammer und Kettensäge zur Verfügung stehen. Leute mit handwerklichem Hintergrund mögen über solche Kleinigkeiten schmunzeln und einigen Akademikern mag der Reiz hinter einem solchen Zuwachs fremd sein, aber es ist doch auch Wissen. 

Allerdings ist der Preis auch hoch. Nach sechs Wochen extremer Freiheit kommen bei mir häufiger Zweifel auf, ob das Bett und die drei Mahlzeiten pro Tag den Verlust eben dieser wert sind. Besonders angesichts der inzwischen auch hier vollzogenen strikten Corona-Beschränkungen. Ohne triftigen Grund ist es der Bevölkerung am Wochenende nicht gestattet, das Haus zwischen 13 Uhr bis 5 Uhr des nächsten Tages zu verlassen. Es fällt mir leicht mich daran zu gewöhnen, dass es aller Voraussicht nach nun nicht mehr in dem gleichen Maße auf meiner Reise vorangehen wird, wie ich es mir vorgestellt und erhofft habe. Gleichzeitig ist es eine gute Möglichkeit nicht mehr nur für das „Ziel“ unterwegs zu sein, sondern den Weg als solches zu genießen. Die Möglichkeit jeden Samstagvormittag vor Sperrstunde mit einer Bekannten zum Surfen zu fahren lässt mich mein Kreuz leichter tragen.

Nach drei Wochen verlasse ich Villa Nova de Cerveira, um das Land vom Norden nach Süden zu durchreisen. In einer mir untypischen Organisiertheit habe ich mir bereits ein nächstes „workaway“ zu den Füßen des Serra de Estrella Nationalparks, der Heimat Tintos und des einzigen Skigebiets Portugals gesichert. Ich habe eine Woche Zeit für die 300 Kilometer und kann es dementsprechend gemütlich angehen. Träge radele ich die Küste entlang und besuche Porto für einen Tag. Er ist zu kurz für eine Stadt dieser Größe.

Südlich von Porto ist die Küste dicht besiedelt und so ist es nicht leicht einen Schlafplatz zu finden. Umso mehr freue ich mich, als ich an einem Stück Küste, das zwischen Ozean und einem Militärgebiet eingezwängt ist, einen besonderen Ort finde. Eine Schotterpiste scheint entlang einer recht verkommenen Freizeitfläche mit riesigen Pinien geradewegs auf das Ende der Welt zuzuführen. Die Straße endet abrupt an einer ausgewaschenen Abbruchkante, die sich über einem rustikalen Strand erhebt. Diese Abbruchkante ist einem verrosteten Spielplatz über die Jahre hinweg schon sehr nah gekommen und auf zwei Containern deuten verblichene Werbeanzeigen auf die Genüsse längst vergangener Sommer hin. Das Meer ist rau und am Horizont braut sich bereits eine massive, dunkle Wolkenwand zusammen. Davon fahrlässiger Weise unbeeindruckt baue ich mein Zelt ungeschützt an der Abbruchkante auf, um das Kommende während des Kochens zu genießen.

Die Wind nimmt schnell zu. Spätestens als ich beim Wasser abschlagen – trotz fachmännischer Überprüfung des Windes – Opfer meiner eigenen Körperlichkeit werde, begreife ich, dass es für mich heute nichts mehr zu gewinnen gibt und trolle mich in mein Zelt. Die Heringe wollen in dem aufgeweichten Sandboden nicht halten bleiben und bei dem Flattern, Knallen und Rascheln der Zeltwand ist nicht an Schlaf zu denken. Der Regen setzt ein und wiederkehrend halten Autos keine 20 Meter von mir, um das sich in Schwärze auflösende Panorama, das immer wieder von Blitzen erhellt wird, aus der Sicherheit ihres Fahrzeuges heraus zu genießen. Zwei Stunden verharre ich so im Zelt in der Hoffnung, dass der Sturm sich legen könnte, bis ich aus der Sorge heraus, dass meine Zeltstangen brechen könnten, auf einem verwitterten Holzdeck hinter einem der Container Zuflucht suche. Der Platz reicht kaum für die Liegefläche und durch die ungespannten Zeltbahnen tritt einiges an Regen ein. Immerhin kann der Wind hier nicht zugreifen. Die Nacht hindurch lausche ich dem Rauschen der Baumkronen und werde immer wieder vom Donner und dem kreischenden Knarzen brechender Äste aus einem unruhigen Halbschlaf geweckt.

Ich erinnere mich an eine Episode aus Neuseeland, als mein Kumpel Frederik, ein weiterer französischer Tramper-Luftikus und ich an dem „östlichsten Punkt der Welt“, dem East Cape auf Neuseelands Nordinsel nächtigen wollten, um das „erste“ Sonnenlicht des neuen Tages zu erleben. Es war eine verlassene Gegend und wir mussten auf einer durchweichten Schotterstraße gut 20 Kilometer zu dem Leuchtturm laufen, der diesen Punkt markiert. Der Leuchtturm befand sich auf einem 150 m hohen Hügel in Nähe der Klippen und bot genügend Platz, um unsere Zelte dort zu errichten. Auch diese Nacht zog ein mächtiger Sturm auf, zwei unserer drei Zelte kollabierten, an Schlaf war nicht zu denken und als wir am frühen Morgen endlich den Sonnenaufgang als Frucht unserer Strapazen genießen wollten, war der Himmel noch immer so wolkenverhangen, dass kein Lichtstrahl die Wolkendecke durchdrang. Mit hängenden Köpfen und im strömenden Regen gingen wir den langen Weg zurück zur kleinen Stadt und suchten Zuflucht im dortigen Hostel in einem alten viktorianischen Herrenhaus, das nur noch einen Schimmer seines ehemaligen Glanzes besaß. Wir waren die einzigen Gäste und erfuhren von dem Maori, der das Hostel betreibt, dass wir in unserer Unwissenheit eine ungemeine kulturelle Respektlosigkeit begangen hatten. Das East Cape ist für die Urbevölkerung, ähnlich dem Cape Reinga im Norden ein heiliger, spiritueller Ort, von dem aus – ihrem Glauben nach – die Seelen der Verstorbenen in den Ozean eintauchen, um nach „Hawaiki“, dem Land ihrer Ahnen, zurückzukehren. Dass wir unsere Pommes mit ihm teilten – mit denen er seine Sandwiches belegte – besänftigte ihn zwar schnell, aber trotzdem: Was für ein Reinfall!

Mit dem schmutzigen ersten Licht des nächsten Tages zeigt sich die Verwüstung um mich herum. Die an der Straße stehenden großen Müllcontainer liegen umgekippt in der Umgebung, einige mannsdicke Äste liegen inmitten des Pinienwaldes zerstreut, dessen Baumkronen wegen des zwar bereits abgeflauten, aber immer noch starken Windes bedrohlich schwanken. Ich bin froh, dass mich mein Weg von hier an von der unmittelbar dem Wetter ausgelieferten Küste wegbringt.

Den ganzen Tag über regnet es und kurz vor dem Einbruch der Dunkelheit besuche ich in einem 20-Seelen-Dorf die kleine Kneipe, um einen wärmenden Café zu trinken und das Trinkwasser für die Nacht aufzufüllen. Nach angenehmen, heimeligen Minuten ohne gemeinsame Sprache mit der alten Wirtin und portugiesischem „Frühstücksfernsehen“ im Hintergrund kommen zwei grobschlächtige Landarbeiter mit gutmütigen und vom Suff geröteten Gesichtern herein. Eine gemeinsame Sprache fehlt – abgesehen von wenigen Vokabeln – auch uns, aber der Schnaps, der ewige Gleichmacher, verbindet. So verlasse ich die Kneipe statt der angedachten kurzen Cafépause erst vier Schnäpse und zwei Bier später vergnügt und mit warmem Bauch und suche mir im nächstbesten Wald meinen Schlafplatz. 

Am nächsten Tag will ich die verbliebenen 80 Kilometer nach Barril de Alva zu meinem nächsten workaway-Platz zurücklegen, aber schon nach wenigen Kilometern hält mich ein freundlicher, alter Mann in einem ausgeblichenen weinroten Opel Kadett an. Sein Englisch ist nach all den Jahren etwas eingerostet, aber so stehen wir die Hälfte der Straße blockierend und führen Konversation, die ich nur immer wieder mit beunruhigten Blicken über meine Schulter gen Verkehr unterbreche. Manuel, Anfang 80, hat die Welt oder vielmehr die ehemaligen portugiesischen Kolonien erst mit dem Militär und später als Schreiner bereist. Neugierde, Gastfreundschaft und Erinnerungen – die er reichlich mit mir teilt – sind ihm von seinen längst vergangenen Abenteuern geblieben. Während wir miteinander sprechen, füttert er mich mit noch warmen Brötchen und lädt mich auf einen Café bei sich ein, was ich nach kurzem Durchgehen meiner anfänglichen Pläne auch annehme. 

Vor dem schönen selbstgebauten portugiesischen Haus mit einem riesigen Garten wird artig die Maske aufgesetzt und dann werde ich auch schon in die Küche hineingeschoben. Zwei liebenswürdige Greisinnen mit wettergegerbten Gesichtern sitzen um die offene Feuerstelle. Während er mir sein Grundstück, sein Lebenswerk zeigt, das im Grunde genommen zur Selbstversorgung reicht, und ich mit keinesfalls vorgespieltem Staunen seine Tiere und die gut eingerichtete Schreinerwerkstatt betrachte, wird der geplante Café in der Küche zu einem üppigen Mittagessen umdisponiert.

Ich fühle mich wohl. Es werden zwei Flaschen selbstgekelterten, ehrlichen Rotweins getrunken und es kommt noch eine weitere Greisin – eine Cousine – zu Besuch, auf deren Drängen wir noch einen selbstgebrannten Schnaps trinken und uns auf meinem hanebüchenen Französisch unterhalten. Zu Zeiten des Salazar-Regimes, als auch noch heute suchten viele Portugiesen ihr Glück in der Diaspora und vor allem Frankreich war ein beliebter Arbeitsort, um für die Daheimgebliebenen zu sorgen. So hat man gerade bei den Älteren mit der französischen Sprache oft mehr Glück bei der Verständigung. 

Inzwischen bin ich angenehm beschickert und wir fahren für einen letzten Café in die Kneipe des Nachbardorfes. Dort kommen in einem regen Kommen und Gehen an diesem Samstag alle Männer der Umgebung zusammen, trinken das eine oder andere Bier und sind gesellig. Nachdem mir stetig neue Biere gereicht werden gebe ich auch eine Runde aus, für die ich trotz des Beiseins Manuels den Fremdenpreis zu bezahlen habe. Das ist okay, auch das ist wohl soziale Marktwirtschaft. Inzwischen bin ich in einem Zustand, in dem ich das nun ausgesprochene Angebot eine Nacht, aber auch nur eine, das betont er, im Haus zu verbringen, gerne annehme.

Bei dem Abendessen sind noch die erwachsenen Kinder zu Besuch und es ist ein schönes Gefühl, so schnell und herzlich in eine Familie aufgenommen zu werden. Man gibt sich mit mir besondere Mühe und ich genieße es nach den Strapazen des Vortages. Sogar zum gemeinsamen Weihnachtsfest werde ich eingeladen. Am nächsten Tag laden wir noch mein Fahrrad auf seinen alten Pick-up und ich bekomme einen Lift über 15 Kilometer und einen steilen Anstieg bis hin zu einer Tankstelle, an der wir einen letzten Café gemeinsam trinken, der diesmal auch wirklich ein Café ist.

Jetzt im Dezember spielt sich in den Kleinstädten ein Schauspiel ab, das den inneren Grinch in mir erwachen lässt. Die Straßen sind voller kitschiger Weihnachtsdeko und aus alten krachenden Lautsprechern ertönen scheinbar lizenzfreie Weihnachtslieder, die sich noch verrückter und grausiger anhören als die Originale, an die sie angelehnt sind. Wie viel merkwürdiger erscheint das Ganze noch am Wochenende, wenn die Straßen durch die Ausgangsbeschränkungen weitestgehend leer sind. Wo bleibt die diesem Fest so oft angedichtete “Besinnlichkeit”? Ich erinnere mich an eine Stelle aus Milan Kunderas Roman „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“, in dem er uns Menschen – durch eine seiner Figuren verlautbart – in einem neuen Zeitalter des Lärms und der Hässlichkeit angekommen sieht. Der Kitsch des Neoliberalismus steht dem des mit Pathos behafteten, real existierenden Kommunismus in nichts nach. 

Nach dem genauso regelmäßigen wie unvorhergesehenen Alkoholkonsum der letzten Tage bin ich froh in Barril de Alva für 10 Tage in einem Meditationszentrum zu arbeiten und dort ein achtsameres Leben zu führen. Mein Gastgeber Jack, ein stiller, junggebliebener Brite in seinen Sechzigern hat sich dort nach einem bewegten Leben und jahrelangem Leiten eines Retreats an der Südwestküste Englands einen Traum erfüllt und hier ein Grundstück mit großem, renovierungsbedürftigem Haus erworben, das er seitdem in Eigenarbeit schön hergerichtet hat. Die Arbeitstage laufen routiniert ab: 7 Uhr aufstehen, 45 Minuten Meditieren, 15 Minuten Hausarbeit, Frühstück, 4 Stunden Gartenarbeit, Mittagessen und danach Freizeit bis zu einer abendlichen Meditation. Es tut gut so strukturiert zu leben und neben dem Tagesprogramm bleibt ausreichend Zeit zum Lesen und zum Erkunden der Gegend mit Magic, dem Hund. In dieser Gegend sind die Grundstücke besonders günstig und so ist dort, wie eigentlich überall in Portugal eine recht lebendige Gemeinde an Expats zu finden, die sich auch zweimal die Woche bei Jack zum Singen und gemeinsamen Meditieren einfinden. 

Es ist Mitte Dezember. Über die Feiertage habe ich mir bereits ein Workaway im portugiesischen Hinterland nahe Sertã organisiert und so bleibt genügend verfügbare Zeit, um die alte portugiesische Hauptstadt Coimbra zu besuchen. Trotz der Pandemie habe ich Glück über Couchsurfing bei der wohl aktivsten Gastgeberin der Stadt, Maria Helena, unterzukommen. Sie ist eine großzügige, liebenswerte Frau Ende 60, die auf dem elterlichen Hof nahe der Stadt eine ganze Doppelhaushälfte für Reisende zur Verfügung stellt und mich bezüglich meines Aufenthaltes in der Stadt gut berät.

Neben antiken römischen Siedlungen in der näheren Umgebung und einigen Klosteranlagen ist die Stadt vor allem für ihre altehrwürdige Universität bekannt. Die akademische „Übermenschen-Haltung“ mancher meiner Heidelberger Kommilitonen würde hier auf ihre Kosten kommen. Ein gewisser – Traditionen verpflichteter – Teil der Studentenschaft prägt mit ihren schwarzen, wallenden Talaren, die doch sehr an die Hogwarts-Schuluniform des Hauses Slytherin aus Harry Potter erinnert, das Stadtbild. Portugal hat im Gegensatz zu Deutschland nie eine groß angelegte Bildungsoffensive durchlaufen und so gilt das Studieren hier noch als etwas. Deshalb werden Absolventen noch immer ehrfürchtig mit „doctore“ angesprochen. Das rechte Ufer hat traditionell die Studentenschaft der Stadt beherbergt, während das Proletariat mit all den Dienstleistungen und Handwerken, die der Universität dienlich waren, auf dem linken Ufer ihr Quartier hatte. Das Universitätsleben ist durch den „código de praxe“, dem Kodex für studentische Bräuche geprägt. Aus ihm gehen allerlei Regeln und Bräuche hervor, die der Initiierung der Studenten dienen sollen, mit dem ihm zugrunde liegenden Machthierachien und groben Humor allerdings aus der Zeit gefallen erscheinen.

In der Stadt werde ich von Renato – einem aufgeschlossenen Fahrrad-Narren angesprochen – der nach kurzem prüfendem Blick mehr über die an meinem Rad verbauten Teile weiß, als ich nach deren monatelanger Nutzung. Er empfiehlt mir der „route nacional 2“ Richtung Süden zu folgen. Diese Bundesstraße durchzieht das Land von Norden nach Süden auf einer Streckenlänge von 739 km und erfreut sich als portugiesisches Äquivalent zur „Route 66“ einer großen Beliebtheit. Die schönen Ausblicke entlang der Straße sind die kräftezehrenden Anstiege wert. 

In der Gegend nahe Sertã wird besonders augenscheinlich, wie die großen Waldbrände der letzten Jahre diese Region Portugals verwüstet haben. Der Blick zum Horizont wird von unzähligen verbrannten Pinien gesäumt, die sich gleich einem Geisterwald in den strahlend blauen Himmel erheben. In Bodennähe hingegen erstarkt die Vegetation bereits erneut durch die fruchtbare Asche der Waldbrände. Die in Portugal vorherrschende Eukalyptus-Monokultur ist Fluch und Segen zugleich. Zum einen bringen sie den Grundbesitzern in der Papierproduktion schnelles Geld, doch die versprochenen Arbeitsplätze sind durch die maschinelle Forstwirtschaft ausgeblieben. Zum anderen sind diese wasserintensiven Bäume Grund für die immer weiter zunehmende Dürre und Bodenerosion im ganzen Land. Zusätzlich erhöhen die ätherischen Öle dieser Bäume die Waldbrandgefahr ungemein. Nach dem Schlagen des Holzes ist der Boden von den Bäumen völlig ausgezehrt und von den schweren Maschinen verheert und verdichtet. Doch wie überall auf der Welt ist der Mensch kurzsichtig und diese Kurzsichtigkeit wurde vor wenigen Jahren sogar von der europäischen Union gefördert. 

(https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/waldbraende-in-portugal-warum-die-eu-das-gefoerdert-hat-verstehe-ich-nicht-15069164.html)

Die nächsten zwei Wochen und damit die Feiertage verbringe ich bei Helena, einer frühpensionierten Niederländerin, die schon vor fünfzehn Jahren hierher ausgewandert ist und mit drei kleinen Hunden und einer Katze zusammenlebt, die sie aus dem Tierheim gerettet hat. Es ist nicht allzu viel zu tun und so genießen wir die Gesellschaft des anderen über die Feiertage und wechseln uns beim Kochen ab. Die schönste “Arbeit” ist es, am frühen Morgen mit den Hunden durch die feenhafte Landschaft zu spazieren. Ich wünsche mir und wäre wohl auch nicht verwundert, hier einem Hobbit zu begegnen. Die Bauern, die in der Ferne bereits Holz machen und die in ihrer Physiognomie den Bewohnern Mittelerdes ähneln, lassen mich in meiner Hoffnung wachsam bleiben… 

Helena kann mir durch ihre Erfahrung und ihre guten Portugiesisch-Kenntnisse all jene Fragen beantworten, die ich schon seit Wochen mit mir herum trage und sie zeigt mir meine neue Lieblingsgeste. Ein Reiben des Ohrläppchens zwischen Zeigefinger und Daumen. Es bedeutet, dass etwas richtig gut ist. Etwa so gut wie ein gepökeltes Schweineohr, welches hier als Delikatesse gilt. Ich fühle mich für weitere Zusammenkünfte in Portugal nun gut gewappnet. 

Entlang des Tejo Flusses, der bei Lissabon in sein riesiges Delta fließt, mache ich mich auf die dreitägige Fahrt in Richtung Hauptstadt. Die Nächte sind Anfang Januar bitterkalt. Die Ausläufer des Wetterphänomen, das Spanien den unglaublichen Kälteeinbruch beschert, sind auch hier zu spüren. Es werden bis zu -4 Grad Celsius und so ist mein Zelt am Morgen von einer dicken Schicht Raureif überzogen. Im Schlafsack selbst friere ich nur wenig, aber das Leben vor und nach dem Zelt ist die reine Qual. Es gibt nichts Schlimmeres als den metallenen Kocher am Morgen zu bedienen oder das komplett gefrorene Zelt mit klammen Fingern einzuräumen. Wenn ich tagsüber dann mein Zelt zum Trocknen aufhänge suchen oftmals Passanten das Gespräch mit mir. Mir wird versichert, dass dieses frostige Wetter keineswegs normal sei und sie entschuldigen sich dafür, als ob meine kalten Finger dem Ruf ihres sonnenverwöhnten Landes schaden könnten. 

Trotz der Pandemie habe ich Glück und meine „last-minute-Anfrage“ wird auf Couchsurfing von Inês angenommen. Nachdem ich die letzten Monate eigentlich nur Kontakt mit Rentnern hatte, ist es schön sich endlich einmal wieder mit einem Menschen im gleichen Alter auszutauschen. Mein wohlplatziertes Ass im Ärmel, das Reiben meines Ohrläppchens zwischen Mittelfinger und Daumen nach dem Abendessen, verursacht bei ihr als Yuppie und Veganerin mit unzähligen Schweinefiguren in der Wohnung, kein Amüsement. Ich notiere mir, dass die Geste wohl eher was für den provinziellen Rahmen ist. Sozialität will gelernt sein und durch „trial & error“ immer wieder neuausgerichtet werden.

Lissabon ist durch Winter und die Pandemie äußerst menschenleer und so habe ich die momentane van Gogh-Ausstellung, die Kathedrale Jerónimo und das altehrwürdige Caféhaus Belém, in denen das Leibgebäck der Portugiesen, die „Pastéis de Nata“ angeblich erfunden wurden, fast für mich allein. In Portugal herrschen in Bezug auf die Corona-Pandemie mittlerweile sächsische Zustände. Nach den Feiertagen überschreitet die 7-Tage-Inzidenz ab Mitte Januar sogar den Wert von 800.

Wie immer ist es eine Qual, die Stadt und die nicht enden wollenden Vororte zu verlassen. Ich stehe vor der Entscheidung 40 Kilometer flussauf zu fahren, um eine Brücke für den Fahrradverkehr zu überqueren oder einen Zug Richtung Sétubal zu nehmen. Der Zug ist bis zum Bersten gefüllt. Wie auch in Deutschland sind besonders die Schlechtergestellten Bevölkerungsschichten der Situation schutzlos ausgeliefert.

Ich benötige den ganzen Tag, um den Ballungsraum Lissabon zu verlassen und finde in einer besonders kalten Nacht unter einem wunderschönen, mächtigen Pinienbaum einen perfekten Platz für das Zelt. Die Piniennadeln isolieren den Boden und die tiefhängenden, schweren Äste schützen gleich einer Höhle vor der Feuchtigkeit.

Auf der Halbinsel Setubal steuere ich das Cap Espichel an, auf dem – neben einem Leuchtturm – die um 1701 erbaute Wallfahrtskirche Nossa Senhora do Cabo Espichel liegt. Die Kirche ist an den Steilklippen des Atlantiks errichtet und dem Wetter schutzlos ausgeliefert. In der im barocken Stil reich verzierten Kapelle herrscht eine besondere Atmosphäre. Die tiefsitzende Stille wird nur von dem im hohen Dachgewölbe kreischenden Wind und dem Krachen der nahen Wellen durchbrochen. 

Entlang der Küste des Alentejos – dem Land der Korkeichen und Olivenbäume – fahre ich weiter in Richtung Süden. Die sanften Hügel nahe der Küste strahlen auch zu dieser Jahreszeit in einem satten Grün. Es erinnert mich sehr an Neuseeland und wird schnell zu meiner Lieblingsgegend des Landes. Für einen Tag folge ich dem beliebten Fernwanderweg „Fishermen’s Trail“, wobei ich nicht selten durch von Sanddünen zugewehte Abschnitte schieben muss oder mich plötzlich auf viel zu steilen Treppen wiederfinde.

Die kleinen Buchten entlang der Steilküste werden von den hier lebenden Menschen seit Jahrhunderten genutzt, um im Wissen um die Gezeiten ihre Boote zu Wasser zu lassen. Wegen all der aus der Brandung herausragenden Felsen und tückischen Strömungen muss es ein schwieriges Handwerk sein. Des Weiteren haben sich viele Störche diese Felsen als Lebensraum auserkoren. Was bei uns in Deutschland eine Meldung in den Regionalnachrichten wert wäre, ist hier profaner Alltag. Für eine Nacht finde ich über warmshowers.org, das ist quasi Couchsurfing für Radreisende, Unterschlupf bei Tanja, Micha und deren drei Kindern. Nach jahrelangen Reisen, die die beiden schließlich zueinander geführt haben, haben sie das Alentejo zu ihrer Heimat erwählt und nehmen, wann immer es sich passt, selbst Radreisende auf. Es tut gut, sich endlich wieder in der Sprache zu unterhalten, die dem Herzen nahe ist. 

Die Algarve lockt jährlich Millionen von Touristen mit ihrem sonnenverwöhnten Klima und den herrlichen Stränden. Seit Jahrzehnten hat sich diese Region, insbesondere durch die portugiesische Wirtschaftspolitik gefördert, immer mehr auf den Tourismus ausgerichtet und ist dadurch von den Auswirkungen der Pandemie besonders hart betroffen. Durch den Schock und die Einbußen des letzten Jahres fordern viele Stimmen ein Umdenken und Aufbrechen dieser Monowirtschaft, aber die nächsten Millionenprojekte der Ferienindustrie zur Verfestigung des Status Quo werden bereits errichtet. Eigentlich herrscht seit einigen Tagen ein neuer Lockdown mit Ausgangssperren, aber nichtsdestotrotz sind die beliebten Surfspots gut gefüllt. Nach der angenehmen Abgeschiedenheit der Küsten des Alentejos wirken die zugebauten Küsten der Algarve geradezu grotesk.  (https://www.deutschlandfunkkultur.de/portugals-ferienindustrie-und-corona-touristen-verzweifelt.979.de.html?dram:article_id=484129)

Um nicht doch noch zum Ende meines Portugal-Aufenthaltes mit dem Gesetz in Konflikt zu kommen, nehme ich ein Angebot an, welches ich über Umwege erhalten habe und lande schließlich in der Nähe von Ourique. Die Kleinstadt im Alentejo hat sich selbstbewusst zur „Hauptstadt des schwarzen Schweines“ ernannt, einer alten, robusten, freilaufenden Schweinerasse, was der Region neben den Bergwerken einen bescheidenen Wohlstand eingebracht hat. Das ikonische Schwein hat das Stadtbild und sogar die Etiketten der lokalen Weine fest im Griff. Auf den umliegenden Weiden kann man zu dieser Jahreszeit beobachten, wie das vierbeinige schwarze Kapital durch den Fall der Eicheln ausgelösten Nahrungsüberschuss enorm an Gewicht und somit auch an Wert zunimmt. 

Ich komme bei Angelika und Dieter auf ihrem Selbstversorgerhof mit dem Namen „Monte do Compromisso“ unter. Das namensgebende Compromisso also Versprechen hat einen biblischen Hintergrund und meint, dass ihr Christengott seine schützende Hand über sie hält, solange sie sich mit ihrem Leben und ihrer Arbeit an ihn wenden. Bisher scheint diese Abmachung hervorragend zu funktionieren. Innerhalb der letzten 30 Jahre haben sie mit sehr viel harter Arbeit eine von Viehzucht und Monokulturen ausgezehrte Halbwüste mit Hilfe von Permakultur-Methoden zu einem blühenden Paradies gemacht.      

Die vierzehn Hektar Land, das Dutzend Hühner, fast 30 Schafe, der zur Erholung und Fischzucht auf 4 Hektar extra geschaffene See und die sechs Bienenvölker verlangen einiges ab. Es ist ein arbeitsreiches, ehrliches und schönes Leben, das hier geführt wird. Ich darf dabei helfen die Tiere am Morgen zu versorgen, unzählige Weidenstecken zur Begrünung des Sees zu pflanzen, vom Sturm umgerissene Bäume zu bergen und zu Brennholz zu verarbeiten, riesige Flächen nach Unkraut „abzuspazieren“, Zäune auszubessern, Naturdünger zu verteilen und in der gut eingerichteten Werkstatt an verschiedenen Projekten mitzuwirken. Es wird nicht langweilig. Inzwischen neigt sich der Januar dem Ende, aber der Lockdown wird wohl verlängert. Aus meiner Verschnaufpause sind fast vier Monate geworden. Trotzdem werde ich mich auf den Weg zur spanischen Mittelmeerküste machen, um – so wahr der Segen des Landes auch auf mich abgefärbt ist – mit dem Frühling gemeinsam nach Norden zu ziehen. 

Christopher Rerrer

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